Nie wieder Krieg!

Eckhart W. Peters

Jede Generation hat sich auf Kriege vorbereitet, als Opfer oder Täter. So gehörten Arbeitsdienst, Dienst an der Waffe und Wehrdienst in den Lagern und Kasernen zum täglichen Leben und sind Teil der eigenen Geschichte. Ich wünsche uns allen, dass unsere und künftige Generationen keinen Krieg erleben müssen.
Krieg und immer wieder Krieg … über tausend Jahre und keine Familie, die nicht unter den Folgen eines Krieges zu leiden hatte. Jede Generation weiß über Grausamkeiten des Krieges zu berichten … oder verschwieg sie.
Mein Vater (1916-2002), meine Mutter (1916-2004) berichteten über den Luftangriff auf Coventry, den zweiten Weltkrieg, den Überfall auf Polen und den Einsatz der Magdeburger Panzerdivision im Kaukasus; meine Großväter (1881-1973) und (1861-1942) über den ersten Weltkrieg, über Luftangriffe und Giftgaseinsatz; mein Urgroßvater (1836-1911) über den Krieg in Frankreich 1870/71 und über die Schlacht bei Sedan.
Schon die Generationen davor waren von den Befreiungskriegen 1815, über die Schlachten gegen Napoleon (1806), den Siebenjährigen Krieg (1756- 1763) bis hin zum Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), der Magdeburg zerstörte, arg betroffen.
Die Zerstörung 1631 traf Magdeburg und seine Bevölkerung grausam, genauso wie die am 16. Januar 1945. Eine persönliche Erinnerung.

Der Erste Weltkrieg, der wirtschaftliche Zusammenbruch, die gesellschaftlichen, politischen Spannungen, die vielen Verletzten, Verstümmelten und Toten und das Ende der wilhelminischen Monarchie lähmten fortschrittliche Gedanken. Das Ende der Monarchie im Deutschen Reich war am 9. November 1918 mit einer Extraausgabe des Berliner Volksblattes „Vorwärts“ bekanntgegeben worden. Der Kaiser und König Wilhelm dankte ab, verließ schon am selben Tag das Reich und begab sich nach Holland ins Exil. Die Grenzen Europas und des Deutschen Reiches wurden neu geordnet. Das Kriegsmaterial wie schwere Artillerie, die deutsche Hochseeflotte, 5.000 gebrauchsfertige Lokomotiven und 150.000 Eisenbahnwagen mussten an die Siegermächte abgeliefert werden. Die Deutsche Armee war damit kampf- und bewegungsunfähig.

 

Das war nicht nur der Zusammenbruch des Deutschen Reiches, es war das Ende der europäischen Herrschaft in der Welt und auch das Ende der Kolonialzeit. Der Erste Weltkrieg war 1919 offiziell beendet, für das Deutsche Reich hatte Reichspräsident Friedrich Ebert die Bestätigungsurkunde unterschrieben.

Doch mit dem Waffenstillstand war der Krieg nicht eigentlich vorbei. Wirtschaftlicher Zusammenbruch, Inflation und politische Unruhen, Armut und Krankheiten, die vielen Toten, Verstümmelten und Verletzten des Ersten Weltkrieges – des ersten Giftgaskrieges – sowie die “Spanische Grippe“ lähmten die gesellschaftliche Erneuerung. Diese Krankheit aus Amerika überrollte vor hundert Jahren (1918-1920) Europa und breitete sich zu einer weltweiten Pandemie aus. Es starben durch drei Pandemiewellen 675.000, im Deutschen Reich 300.000 und allein in Indien sollen es 17 bis 20 Millionen Menschen gewesen sein, weltweit mehr als die Toten im Ersten Weltkrieg.

Nur dreißig Jahre zuvor waren viele Städte im Deutschen Reich von einer Cholera-Pandemie heimgesucht worden, auch Hamburg und Magdeburg. Sie hatte 1831/32 einen Vorläufer gehabt, an dieser Cholera-Pandemie starben allein in Magdeburg mehr als 3.000 Menschen. Die Goldenen Zwanziger Jahre waren von Armut, Arbeitslosigkeit und Inflation geprägt, sie waren der Nährboden für die Nationalsozialisten, der Stahlhelm lebte in Magdeburg auf.

Die Zeit, die sozialen, politischen Spannungen vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zum Beginn der NS-Diktatur, ist für Magdeburg 1995 ausführlich von Manfred Wille in dem Buch „Magdeburgs Aufbruch in die Moderne“ (H. 39/II/95, Stadtplanungsamt) dokumentiert und beschrieben worden.

Der 1919 von der SPD und KPD einstimmig gewählte Oberbürgermeister Hermann Beims blieb bis 1931 im Amt und übergab seinen Posten als Oberbürgermeister dem Sozialdemokraten Ernst Reuter aus Berlin, der trotz der Stimmen der Nationalsozialisten (seit 1929 im Stadtrat Magdeburgs vertreten) mehrheitlich gewählt wurde. Die politischen Auseinandersetzungen, die auch Berlin bestimmen, werden am 23. März 1933 im Deutschen Reichstag durch eine Rede Adolf Hitlers beendet, Deutschland ist jetzt eine Diktatur.

Mein Vater ist 1916 in Magdeburg – in Sudenburg, im Rayonhaus in der Leipzigerstraße 21 – geboren, wie schon zwei Jahre zuvor sein Bruder Gerhard. Er hat anhand seiner Aufzeichnungen in Sütterlin-Schrift 1999 seinen Lebensabschnitt von 1935 bis 1945 aufgezeigt, der für die komplexe Geschichte junger Menschen im Tausendjährigen Reich in Magdeburg beispielhaft ist.

 

Auszüge aus dem Tagebuch meines Vaters Wilhelm Max Peters

 

März 1935 Abitur am Vereinigten Dom- und Klostergymnasium in Magdeburg
April 1935 Studium an der Hochschule für Lehrerbildung
März 1937 nach vier Semestern 1. Staatsexamen
April 1937 Einberufung zum Reichsarbeitsdienst. Das Arbeitslager Wietfeld (ein Glücksfall) lag im Oberharz zwischen Elend und Sorge. Arbeitseinsatz bis zum Oktober bei der Heuernte, Harz-kratzen, Hecke-lesen
Nov. 1937 Dienstantritt in der Wehrmacht (8. Batterie der III. Abteilung des Artillerie-Regiments 13 (mot.), Kaserne Breitscheidstraße in der Heimatstadt Magdeburg
Nov. 1937 Vereidigung vor dem Regimentsgebäude
Febr. 1938 Truppenübungsplatz Altengrabow. Richtkanonier
Juli 1938 Scharfschießen Truppenübungsplatz Bergen-Belsen. Anschließend Marsch zum Truppenübungsplatz Groß-Born in Pommern, Rückmarsch durch Pommern und die Mark Brandenburg
Aug. 1938 Krad-Fahrschule auf dem Gelände am Elbufer nördlich vom Herrenkrug
Sept. 1938 Herbstmanöver, Marsch durch Thüringen in den Raum Nürnberg/Ansbach, danach zur Donau bei Regensburg (Walhalla)
29. September 1938 Münchener Abkommen, Vertrag zur Lösung der tschechoslowakischen Frage. (Hitler, Chamberlain, Daladier, Mussolini)
Sept. 1938 erhöhte Marschbereitschaft, am 2. Oktober Abmarsch in Richtung Riesengebirge, tschechoslowakische Grenze, Rückkehr nach Magdeburg 20. Oktober 1938
Nov. 1938 Lkw-Fahrprüfung und Pkw-Fahrprüfung
Jahresbeginn 1939 Standortübungen im Raum Leitzkau/Möckern/Wörmlitz und Loburg/Genthin
April 1939 Zum Scharfschießen über Bayreuth, Ulm zum Truppenübungsplatz Münsingen, anschließend Urlaub
22. August 1939 Abmarsch aus Magdeburg nach Jüterbog
23. August 1939 Deutsch-Sowjetisches Abkommen
24. August 1939 Postsperre und Marsch (nachts) über Knobelsdorf, Breslau, Brieg nach Leubusch
Am 1. September 1939 begann mit dem Einmarsch/Überfall Deutschlands in Polen der Zweite Weltkrieg
2. Sept. 1939 Grenzübertritt nach Polen, Vormarsch bis zur Weichsel und setzen bei Deblin (Iwangorog) über
Okt. 1939 bringe einen tödlich verunglückten Kradmelder nach Oschersleben zu seiner Familie
26. Oktober 1939 Trauung im Magdeburger Rathaus (Ringe am 18. Okt., Verlobung 21. Okt., danach fünf Tage Urlaub in Potsdam)
Nov. 1939 Abmarsch (fahre Beikrad) über Halberstadt, Wernigerode, Kassel nach Biedenkopf, später Haiger dann Sinn.
April 1940 14 Tage Urlaub in Magdeburg
Mai 1940 Marsch in Richtung Eifel, durch Luxemburg und Belgien an die französische Grenze, dann Vorstoß an die Atlantikküste, Calais, dann Abmarsch Richtung Paris, später Richtung Süden über Amiens und dann in die französischen Alpen an der Schweizer Grenze25. Juni 1940 Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich
4. Juli 1940 Abmarsch nach Paris, Übung für Parade in Versailles, abgesagt dadurch Rückfahrt nach Magdeburg
Aug. 1940 vom Abteilungsstab zur Batterie zurückversetzt
Sept. 1940 Marsch über Leipzig, Prag in den Raum Znaim im Süden der Tschechoslowakei (1.400 km auf dem Beikrad)
1. bis 8. Okt. 1940 Einkleidungsurlaub in Magdeburg (zum Leutnant befördert)
Okt. 1940 die 13.In.Div. (mot) wird als Lehrdivision nach Rumänien verlegt. Transport mit der Bahn über Budapest, Karpaten (Eisernes Tor) nach Bukarest, Truppenübungsplatz Mihai Bravul, wo die schwere Abteilung des AR 13 (mot) untergebracht ist.
4. Januar Sohn geboren!
Jan. 1941 Unruhen in Bukarest, wir werden nach Bukarest in Marsch gesetzt
Febr. 1941 drei Wochen Urlaub in Magdeburg
Mai 1941 mein erster Flug in einem Fieseler Storch
Mai 1941 Abmarsch (Eisenbahntransport) über die Karpaten, durch Siebenbürgen, Ungarn, Slowakei, vorbei an der Hohen Tatra, Teschen, Gleiwitz in den Raum Gr. Strehlitz (Annaberg)
Juni 1941 ich werde zum Artillerie-Kommandeur 140 versetzt, melde mich in Krakau
Am 22. Juni 1941 beginnt der Krieg mit Russland.
Juli 1941 heftige Kämpfe in Lehmberg
Erhalte am 20. Aug. 1941 die Nachricht vom Tod unseres Vaters Friedrich Wilhelm Herrmann (1862-1941) am 13. 8. 1941 in Magdeburg
2. Septemberhälfte 1941 im Raum Charkow eingekesselt, feindliches Artilleriefeuer, Fliegerbomben. Nach wochenlangen Kämpfen aus dem Kessel befreit.
Im Oktober erhalte ich das EK 2.
Nov. 1941 Arzt stellt Gelbsucht fest, Fahrt im Lazarettzug nach Krakau (68 kg), Dez. 1941 Studienurlaub in Berlin erhalten, angenommen.
Jan. bis März 1942 Studium in Berlin
Apr./Mai 1942 Rückversetzung zum Arko 140, Fahrt von Roslawl nach Smolensk, Brest Litowsk, Kiew, Charkow, Jessinowalaja, von dort in Richtung Birjukowa zum Gefechtsstand des Arko
Aug. 1942 nach Mosdok am Terek, bei guter Sicht beeindruckender Blick auf das Gebirgsmassiv des Kaukasus (Beförderung zum Oberleutnant)
Okt. 1942 werde dem Regiments-Stab des AR 70 unterstellt (Gefechtsstand südlich des Terek im Vorgebirge des Kaukasus)
Okt. 1942 Quartier in Gnadenburg, schnitze aus Pappelholz einen Steinbock, dann ein Kamel, später Wagen (Oseberg-Schiff), durchtrennte mit dem Stechbeitel beide Beugesehnen am linken Daumen. Untersuchung im Lazarett in Modosk, dann Lazarett in Kisslowodsk, da kein aseptischer Operationsraum, wird die Operation abgeblasen, eine Verlegung ins Reich angeordnet. Das Arko 140 wird aufgelöst, ich werde zur II/65 versetzt 
24. November 1942 Kessel um Stalingrad.

Ende Januar 1943 Kapitulation
Dez. 1942 im Lazarettzug in Richtung Dnjepr, dann über Lemberg, Krakau nach Kielce in ein Res.-Lazarett (Trebnitz), am 25. Januar im Res.-Lazarett II in Cracau. Entlassung aus dem Lazarett zur Ers. Abt. II/65 in Mühlhausen, Genesungsurlaub in Magdeburg. Schwere Verletzung des Meniskus, trotz längerem Gipsverband keine Besserung.
Aug. 1943 Dienst in der Genesungsbatterie in Mühlhausen, versetzt zur Abteilung als Ordonnanz- und Luftschutz-Offizier (fast täglich Alarm), der Meniskus springt weiterhin raus
13. Oktober 1943 – etwa 3 Uhr – 2. Sohn geboren
Okt./Nov. 1943 Luftschutz-Lehrgang in Potsdam, Ehefrau zieht mit den Kindern am 18. Dez. zu mir in die Kaserne
1944 Bleibe weiterhin in der Ersatz-Abteilung in Mühlhausen, da wegen des Knies nicht k.v. (kriegsverwendungsfähig)
17. Mai 1944 Ziehen in das Gartenhäuschen im Johannistal-Mühlhausen
Im Juni 1944 Landung der Alliierten an der französischen Atlantikküste
20. Juli 1944 Attentat auf Hitler
Aug. 1944 Luftschutz-Lehrgang in Bad Wildungen
Sept. 1944 versetzt als Führer der Stabsbatterie nach Ohrdruf zum Volks-Artillerie-Korp
Nov. 1944 werden die Einheiten verladen und nach Westen in Marsch gesetzt, Bereitstellung in Bunkern des Westwalles
Dez. 1944 Ardennen-Offensive, Vorstoß gegen Echternach in Richtung auf Lüttich. Durch Gegenangriffe der Amerikaner zum Stehen gebracht, Rückzug in die Eifel
Febr. 1945 als Vorkommando zur Pfalz in den Raum Landau, Rückruf zum Korps (Autounfall bei Fahrt über eine zerbombte, nicht gesicherte Brücke). Mit Korps Marsch in nördlicher Richtung bis nach Holland (Raum Arnheim/Nijmegen). Setzen über den Rhein, Stellung bei Rees und Emmerich, dann Rückzug bis Anholt (westlich von Bocholt)
22. März 1945 englische Truppen setzen nach massivem Feuerüberfall über den Rhein. Wir weichen in nordöstlicher Richtung aus. Östlich von Bremen schließlich im Raum Rotenburg (Wümme)/Visselhövede geraten wir – d. h. der Rest des Stabes, Batterien haben wir nicht mehr – in einen Kessel
20. April 1945: Da Widerstand zwecklos, löst der Kommandant den Stab auf. Mit meinem Fahrer Janssen und dem Funkmeister Klewe setzte ich mich von den übrigen ab, und es gelingt uns, in dem schwer zugänglichen Moorgelände aus dem Kessel herauszukommen. Am Abend finden wir ein entlegenes Gehöft, tauschen unsere Uniform gegen Zivilkleidung ein und vernichten alles, was uns als Soldaten ausweist. So versuchen wir als Zivilisten der Gefangenschaft zu entgehen und in die Heimat zu gelangen.
22. April 1945 werden wir von englischen Soldaten (Military Police) aufgegriffen, untersucht und verhört und dann dem Bürgermeister von Bendingbostel, Kreis Verden an der Aller, übergeben. Dort bleiben wir bis zum 25. April (laden Mist) und setzen dann unseren Marsch Richtung Süden fort (von einem englischen Soldaten den Rat erhalten, Landstraßen zu gehen und Waldwege zu meiden, um nicht für „Werwolf“ Partisanen gehalten zu werden, über Steinhuder Meer bis nach Göttingen. Dort von amerikanischer Militärpolizei aufgegriffen, verhört und in einen Keller gesperrt. Am Tag darauf auf einem Lkw zu einer Gefangenen-Sammelstelle in Osterode gefahren. Auf der Gefangenen-Sammelstelle sind deutsche Soldaten in großer Zahl in Doppelreihe angetreten, wir drei – die einzigen in Zivil – werden herausgesucht und gut bewacht ins Osteroder Amtsgerichtsgefängnis geführt. Ich werde in eine Einzelzelle gesperrt, die beiden anderen werden gemeinsam untergebracht. Ehemalige KZ-Häftlinge sind das Wachpersonal. Damit hat, wenigstens bis hierher, die Tarnung als Zivilisten geklappt.
6. Mai 1945 werden wir entlassen und erhalten einen Entlassungsschein vom Military Government of Germany mit dem Vermerk: „Cleared by Military Police – is to be sent away“. Rückseite: Lebensmittelkarten für die Zeit vom 30.4. bis 27.5.1945 ausgehändigt. Elbingerode, 7.5.1945 – Stempel (Adler ohne Hakenkreuz) – Unterschrift.
Am 8. Mai 1945, um 19 Uhr erreiche ich die letzten Höhen vor Göttingen, unter mir liegt die Stadt und die Glocken läuten. Denn es ist Waffenstillstand! Kurz darauf bin ich daheim: Ehefrau und Kinder sind wohlauf!
Glück gehabt!

Seite 4-5, Kompakt Zeitung Nr. 224

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