Standpunkt Breiter Weg:
Die Inflation der Erregung
Thomas Wischnewski

Aus der aufgeregten Gesellschaft gibt es offenbar kein Entkommen mehr. Pyro-Angriffe auf Rettungskräfte und Polizei – da darf kein Auge zugedrückt werden. Was zu den Silvester-Ereignissen in Berlin jedoch folgt, ist ein endloses Gerede. Die Debatte über Täter, unter denen viele mit Migrationshintergrund waren, darf Migranten insgesamt nicht verunglimpfen. Natürlich nicht. Täter sind Täter. Andere, die nicht beteiligt waren, haben damit nichts zu tun.
Die allgemeine und berechtigte Empörung ist Ausdruck der Debattenunkultur in diesem Land. Es existiert kaum noch eine Differenzierung zwischen tatsächlicher Verursachung und Interpretation. Die Hoheit aller Deutung findet im abstrakten, vergeistigten Raum statt. Abstraktion und Theorie verdrängen die Tatsachen. Das ist in Auseinandersetzungen über Geschlechtergerechtigkeit so, genauso wie in zurückliegenden Corona-Diskussionen. Stets schwebt nach kurzer Zeit ein Begriff über Akteuren. Ob patriarchalische, toxische Männer, die Unterdrückung von Frauen verteidigen wollten, ob integrationsunwillige Migranten, unbelehrbare identitätspolitische Vertreter oder allerorten existente, gefährlich rechte Horden, deren Programm die Abschaffung der Demokratie sein soll.
Es sind die Konstrukte einer Unterstellungskultur, die aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken sind. Die Generationen der Alten haben mit ihrem Leben die Welt versaut und die Menschheit mittels klimaschädlicher Emissionen an den Abgrund katapultiert. Corona-Maßnahme-Kritiker konnten in den vergangenen Jahren bei manchen als „Mörder“ an Infizierten gelten. Autofahrer sind per se Fortschrittsbremsen am deutschen Zukunftswagen. Es sind die Empörten, die das gesellschaftliche Klima bestimmen, und es gibt sie in jedem Themenbereich. Weil die Aufschreie wie Dauerregen über dem Land niedergehen, wird es keine Ruhe geben. Wie reagiert man in der Politik? Dort wird mit Geld bekleistert, was zu beseitigen oder zu fördern sei. In der Regel fließen die Euros dann in Sozialforschungsinstitute, die nur noch mehr Unheil ermitteln, weswegen es dann weiteres Geld rieselt.
Fakt ist, die Aufregung über einzelne Themen bewirkt nichts, außer, dass alles nur noch gewichtiger und schlimmer erscheint als die Wirklichkeit. Integration ist kein theoretischer Prozess, der per Verordnungen und mit Sprachkursen gesteuert werden kann. Entgrenzung in den Debatten keimt aus dem Nebel theoretisierter Politikerklärung. Alle erschlagen sich mit Studien und Statistiken. Jeder wird da für seine Argumentation fündig. Gelöst ist am Ende nichts. Menschen müssen sich angemessen miteinander und zueinander verhalten können, egal, was andere theoretisieren. In Berlin haben Kravallisten zu Silvester gefährliche Schäden verursacht. Solche Taten werden nicht durch Debatten verhindert. Die inflationäre Erregung wird weiter zerstören, was einmal uns lieb und teuer war.
Seite 2, Kompakt Zeitung Nr. 224