Stadtmensch:
Silvesterknaller
Lars Johansen
Es ist seltsam und zugleich normal, dass wir uns Termine setzen müssen, an denen wir etwas erledigen. Für Geschenke gibt es Weihnachten und Geburtstage, für Trauer Beerdigungen und der Tag, an dem wir ein wenig innehalten und auf die vergangenen 365 Tage zurückblicken, ist Silvester. Wahlweise auch Neujahr oder die Tage drumherum, aber dieser Zeitraum, der auch gerne „Zwischen den Jahren“ genannt wird, lässt viele von uns nach der weihnachtlichen Hektik durchatmen und innerlich aufräumen. Eigentlich ein willkürliches Datum, welches wir uns irgendwann einmal gesetzt haben, um Zeit messen zu können.
So wie es das Urmeter gibt, so gibt es irgendwo auch ein Urjahr, seit 1988 gibt es ISO 8601, die Norm, welche unsere Datumsangaben definiert. Und den gregorianischen Kalender, der ein Jahr auf eine Länge von 365,2425 Tagen definiert, haben wir seit etwa 1582. So viel Zeit braucht die Erde, um sich einmal um die Sonne zu drehen. Ein galaktisches Jahr dagegen dauert zwischen 220 und 240 Millionen Jahre und bezeichnet den Zeitraum, den die Sonne braucht, um das galaktische Zentrum zu umkreisen. Es bewegt sich also viel und Silvester könnte auch erst in ein paar hundert Millionen Jahren stattfinden. Wir könnten auch auf Ostern zurückblicken, aber da suchen wir hier lieber Eier. Also schauen wir Silvester auf das alte Jahr und verabschieden es mit einem großen Feuerwerk.
Hier beginnen sich die Geister zu scheiden und auch ich bin ein wenig zerrissen. Während die einen das Knallen als Freiheit und befreiend zugleich empfinden, stellt es für die anderen einen überholten Brauch dar, der viel zu laut, teuer, umweltschädlich und daher unnötig ist. Vor Corona – also 2019 – wurden rund 122 Millionen Euro für die Böllereien ausgegeben. In den Jahren zuvor waren es sogar über 130 Millionen Euro. Ganz ehrlich, mich nervt die Knallerei. Aber das war nicht immer so. Als Kind habe ich es geliebt. Ein Onkel war ein wenig pyromanisch und zuweilen auch ein wenig tollkühn, so dass es noch mehr Spaß machte. Es war laut und bunt und sinnfrei beeindruckend. Einmal steckte dieser Onkel eine Rakete in ein auf dünner Eisdecke in einem kleinen Teich selbst geschlagenes Loch hinein, zündete und dann knallte es nicht nur, sondern das Eis bekam Risse, die auf uns zuliefen. Wir liefen auch und es ist, gerade so, nichts passiert. Unsinnig und gefährlich, aber zugleich unheimlich befriedigend, für ein Kind eine wundervolle Erfahrung.
Ich würde niemandem empfehlen, es nachzumachen, weil es wirklich nicht ungefährlich ist, aber ich mag die Erinnerung auch nicht missen. Und darum verstehe ich das Knallen, das Spielen mit einer potenziellen Gefahr, sehr gut und möchte die Erfahrung keinem per Erlass nehmen. Ja, ich weiß, Tiere leiden darunter, Traumatisierte, Kriegsopfer und viele andere. Aber die allermeisten Tiere leiden mehr da-runter, dass sie von Menschen, die dazu nicht immer befähigt sind, als Haustiere gehalten werden. Und als Mensch kann ich mir Kopfhörer oder Ohrstöpsel aufsetzen, wenn es mich stört. Es ist eine Störung mit Ansage und die paar Idioten, welche schon lange vor und noch nach Silvester knallen, sind nun mal nie ganz auszuschließen. Genau so wenig die, welche illegales und hochgefährliches Feuerwerk einkaufen. Es sind vermutlich die gleichen, welche betrunken Auto fahren oder aus Langeweile Bänke zerlegen. Es gibt sie eben und sie haben vermutlich kein befriedigendes Leben. Und ja, ein zentrales Feuerwerk bei gleichzeitigem Böllerverbot in jeder Stadt, wie in London zum Beispiel, wäre wundervoll. Und doch würde etwas fehlen, finde ich.
Was zur Jahreswende in Berlin passiert ist und in kleinerem Maße auch in anderen Orten, das ist betrüblich. Junge Männer, die Krankenwagen angreifen und Einsatzkräfte vorsätzlich verletzen, haben und sind zugleich ein großes Problem. Ob man es löst, wie die Berliner CDU glaubt, wenn man die Vornamen der Täter abfragt, wage ich zu bezweifeln. Schuldzuweisungen sind wohlfeil und haben noch nie geholfen. Und ja, ein großer Anteil der Täter hat einen Migrationshintergrund. Viele von ihnen haben traumatische Kriegserfahrungen überlebt. Also hätten sie es eigentlich besser wissen müssen. Warum haben sie es nicht? Weil sie jung sind, weil sie zu früh erwachsen werden mussten, ohne eine richtige Kindheit gehabt zu haben. Weil sie alleine sind in einem immer noch fremden Land. Und sie sind alleine, weil wir sie gerne alleine lassen.
Sollen sie ihre Probleme doch selber lösen. Ein Schulsystem, das schon mit denjenigen, welche Deutsch als Muttersprache ansehen, heillos überfordert ist, schafft es erst recht nicht, denjenigen zu helfen, die schon damit ihre Probleme haben. Und wenn ihnen dann noch in den sozialen Medien die Knallerei als deutsches Brauchtum und vor allem als Zeichen von Freiheit vorgeführt wird, dann muss man sich nur bedingt wundern. Ich will hier nicht alle Verantwortung von den Schultern der Täter herunternehmen, aber ich denke, wir müssen uns endlich einmal genau umsehen, womit wir es zu tun haben.
In Berlin ist man nicht mal in der Lage, eine Wahl ordnungsgemäß durchzuführen. Diese Stadt ist schon mit sich selber überfordert. Und dem müssen wir uns endlich einmal stellen. Bevor wir weiterhin Milliarden in unnütze Rüstungsprojekte stecken, gilt es das soziale Miteinander zu stärken. Wir brauchen mehr Streetworker und Betreuer, am besten Männer als Vorbilder, die auch arabische Sprachen beherrschen, die helfen können und wollen. Denn diese Gewalt ist vor allem ein Signal der Hilflosigkeit. Es sind, wie Tamara Danz einmal sang „die verlorenen Kinder in den Straßen von Berlin“. Da ist der Vorname wurscht, da gilt es, jetzt zu handeln. Und ich denke, einige wären überrascht, wie friedlich es zugehen kann, wenn man sich kümmert. Das wäre doch mal ein guter Vorsatz für dieses Jahr.
Seite 10, Kompakt Zeitung Nr. 224