Digitale Gefühle

Thomas Wischnewski

Die vernetzte Welt hat die Kommunikation in neue Sphären gehoben. Wir verbinden uns mit Menschen, denen wir zuvor nie begegnet wären. Haben diese Chancen die Welt der Gefühle revolutioniert? Kann Liebe deshalb stabiler und besser werden? Oder ist Digitales letztlich nur das, was wir selbst hineindeuten.

Die vernetzte Welt hat so viele Vorteile. Man kann mit Menschen in Kontakt kommen, die man in der Zeit analoger Kommunikation und Begegnungsmöglichkeiten gar nicht hätte kennen lernen können. Man war auf reale Treffen bzw. Briefe schreiben beschränkt. Wie schön sind also die modernen Möglichkeiten, so vielfältig und oft zusammenzukommen oder Beziehungen über Raum und Zeit hin pflegen zu können. Das Digitale durchdringt ja schließlich alles, und wir sind so wunderbar anpassungsfähig, die Vorteile der Netzwelt anzunehmen und daraus etwas Besseres zu erzeugen und die schlichte schlechtere Vergangenheit hinter uns zu lassen. Doch ist das wirklich so? Sind Partnerschaften heute stabiler, weil Liebessignale permanent ausgetauscht werden können oder Partnerübereinstimmungen mithilfe von Matchings bis ins kleinste Detail analysiert werden können?


Deutschland verzeichnete im Jahr 2005 mit 51,92 Prozent die höchste Scheidungsquote in seiner Geschichte. Seither ist die Quote kontinuierlich rückläufig und hat sich bei rund einem Drittel eingepegelt. Bei den Eheschließungen ist im Gegenzug jedoch ebenso ein relativ stabiles, verglichen mit den 1960er Jahren, niedriges Niveau erreicht. Vermutlich haben Scheidungsentscheidungen wenig mit digitaler Interaktion zu tun. Es sei denn, man schaut auf das Risiko, schneller beim Fremdflirten oder bei Schlimmerem ertappt zu werden. Jeder neue Vorteil bringt eben andere Nachteile mit sich.


Ältere Zeitgenossen beklagen, wie eng jüngere Menschen heute an ihre mobilen Endgeräte gekettet seien. In der Öffentlichkeit klebt der Blick am Bildschirm, als gäbe es keine interessante Umgebung und die Welt wäre auf ein paar Zoll Smartphonedisplay geschrumpft. Die Älteren unter uns vergessen unter ihrer Kritik, wie viele Stunden sie möglicherweise mit ihren Partnern schweigend vor dem Fernsehapparat oder anderweitig ohne Gespräch verbracht haben.


Die vernetzte Welt als eine neue, wundervolle Quelle für das Liebesglück bezeichnen zu wollen, ist letztlich genauso eine Verklärung wie alte, vergangene Zeiten zurückzusehnen oder in einer technisierten Zukunft die Lösung allen individuellen Ungemachs sehen zu wollen. Der „Apparat“, der rosa-rote Brillen erzeugt, der Nähe trotz Entfernung spüren lässt, der die bezauberndsten Menschen hervorrufen kann und in dem sich letztlich alles wieder ins Nichts auflöst oder scheidet, ist und bleibt unser Hirn. Wenn diese vernebelnde Wunderwelt der Gefühle über jemanden hereinbricht, dann hat der Bewertungshaufen aus Milliarden Nervenzellen das Gegenüber entsprechend sympathisiert. Genauso macht es die Natur unseres grauen Zellmaterials mit Nachrichten und Zeichen, die auf Bildschirmen auftauchen und Liebesbotschaften übermitteln sollen. Das Aufblinken von Smileys oder gesendete Wortcodes fallen beim Empfänger nur darum auf fruchtbaren Boden, weil das Hirn in der Lage ist, Gefühle aus diesen Zeichen herauslesen zu können und schließlich wiederum mit diesen zu illusionieren. Wie viel Verführungskunst hinter mancher digitalen Information steckt, wissen am besten jene, die schon mal auf Gefühlsscharlatane hereingefallen sind.


Schöne Worte haben in der Vorinternetzeit nicht gereicht, um einer Beziehung Stabilität, Vertrauen und Nähe vorzugaukeln. Das geht deshalb mit den Möglichkeiten mobiler Kommunikation nicht besser. Am Ende bedarf es stets vieler realer gemeinsam erlebter Ereignisse, die den Wert füreinander erzeugen müssen. Es gilt, nicht den Apparat in der Hand als eine Gefühlsmaschine zu sehen, sondern tatsächlich das wirkliche Erleben mit einem anderen Menschen zu betrachten. Nicht jedes Wort darf auf der Goldwaage liegen, genauso wenig wie jedes noch so schöne Bildchen auf dem Bildschirm niemanden liebenswert macht. Das Fazit über die Liebe auf modernen digitalen Wegen könnte heißen: Wir haben vorrangig die Möglichkeiten illusionärer Projektionen vervielfacht.

Seite 22, Kompakt Zeitung Nr. 225

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