VISION – REALITÄT – ZUKUNFT
la ville est morte, vive la ville

Dr. Eckhart W. Peters

Neu-Magdeburg, eine realistische Stadtbetrachtung
Uns sieht der Mietskaserneninsasse und Asphalttreter als bedauernswerte Idealisten und Utopisten an, die nicht mit beiden Füßen auf der Erde stehen. Er aber steht ja nur auf dem Asphalt und nicht auf dem Erdboden, er möchte vom harten Pflaster aus seine Welt, d.i. die Stadt, regieren und merkt nicht, daß er dabei zum traurigen Idealisten wird, zum Anbeter eines Götzen, zum demütigen Knecht eines Phantoms. Wie sieht denn das Erbe „unserer Väter“ aus? Ich stand auf dem Domturm und sah – nun – keinen Organismus. Das Alte, die Kirchen stehen wie verkümmerte Blumen in einem wüsten Unkrautacker, und wo man keinen alten Straßenzug, keine organische saubere Dachmasse mehr sah, nach Süden, Fermersleben, Sudenburg usw., da war nur ein Geschiebe von wüsten Kästen, in die mit dem Messer schnurgerade „Fluchten“ geschnitten sind – die schöne Welt des Pflastertreters.

 

Bruno Taut, FRÜHLICHT, Eine Folge für die Verwirklichung des neuen Baugedankens, 1922

VISION – jetzt tauts (Volksmund)


1920 war die Gründerzeit in Deutschlands Geschichte und Magdeburg hatte einen neuen Stadtbaurat – Bruno Taut. Er hatte neue andere Ideen zur Stadtentwicklung Magdeburgs (ca. 300.000 Einwohner), heraus aus der Enge und dem grauen Einerlei der Gründerzeit, hatte wesentlich komplexer gedacht und großräumige Planvorstellungen unter Einbeziehung von Boden, Wasser, Klima und Luft entwickelt. „Wo liegt die Elbe, wo sind die Bäche, wo sind die Waldbereiche, welche Flächen eignen sich als Siedlungsflächen, welchen Einfluss haben die Kaltluftschneisen?“ Das waren seine Fragen, die er 1921/22 mit Konrad Rühl in Skizzen dargestellt hat, und die Grundlage für seine Antworten im Generalsiedlungsplan (perspektivisch ca. 500.000 Einwohner) wurden, auch im Sinne von Licht, Luft und Sonne, die noch heute die Siedlungen der zwanziger Jahre prägen.

 

Vor mehr als hundert Jahren löste Bruno Taut in Magdeburg einen Schriftwechsel aus, der als Die gläserne Kette die Welt der 1920er Jahre bestimmen sollte. 14 Architekten, Maler und Bildhauer brachten sich in die Korrespondenz ein und schrieben ihre Gedanken für die Stadt der Zukunft auf. Der Wille zum Neuen Bauen bestimmte die einzelnen Briefe, die gebündelt 1920 in Magdeburg in Bruno Tauts Frühlicht erschienen sind. Der Expressionismus und der Wunsch nach der Einheit von Mensch, Natur und Kosmos sind die treibende Kraft in den Briefen.

 

Der als Ergebnis der vielfältigen Untersuchungen 1923 von Bruno Taut aufgestellte Generalsiedlungsplan weist Siedlungsbereiche zur Stadtentwicklung auf, in denen in den Folgejahren das große Wohnungsbauprogramm der zwanziger Jahre in Magdeburg realisiert wurde. Dort entstanden unter der Regie von Bruno Tauts Nachfolgern wie Johannes Göderitz, Konrad Rühl, Carl Krayl, Xanti Schawinsky etc., die zum Teil während seiner Amtszeit in Magdeburg seine Mitarbeiter waren, die Siedlungen der zwanziger Jahre, die wir heute zu den wertvollen städtebaulichen Kulturdenkmalen zählen.

 

Bruno Taut hat sich allen Diskussionen gestellt und suchte die Konfliktlösung in der Auseinandersetzung. Er ist zu Bürgerversammlungen gegangen, zur Industrie- und Handelskammer und hat zu den Handwerkern gesprochen, um seine Vision von der Entwicklung und Gestaltung der Stadt Magdeburg umzusetzen. Ihm ist in diesem Zusammenhang der Verdienst zuzuschreiben, den Mut zur farbigen Architektur und Stadtgestaltung, zur bunten Stadt im Sinne des Expressionismus, aufgebracht und diese Ideen durchgesetzt zu haben. Bruno Tauts Aufruf zum farbigen Bauen, den er 1921 in den Magdeburger Tageszeitungen veröffentlichte, darf nicht unerwähnt bleiben. Nicht nur Neubauten, wie in der Gartenstadt-Kolonie Reform, sondern auch innerstädtische, vorhandene Objekte Magdeburgs wurden farbkräftig gestaltet – beispielsweise das Rathaus, das Reiterdenkmal und die Villa Hauswaldt. Die Art der Bemalungen folgte keinem einheitlichen Schema, sondern war vollkommen unterschiedlich, von einer flächenhaften Gestaltung über die Betonung von Architekturdetails bis zur abstrakten, phantasievollen und kraftvollen expressionistischen Malerei – gelöst von der Architektur wie das Kaufhaus Barasch oder die gründerzeitliche Otto-Richter-Straße.

 

Die Leitung für die Planung und die Ausführung der Hausbemalungen hatte Bruno Taut an Carl Krayl übertragen. Obwohl es auch heftige Kritik und Widerstand gegen die Hausbemalung gab, erzielte Bruno Taut einen geradezu sensationellen Erfolg mit hoher Werbewirkung für Magdeburg …Heiliger St. Tautian – verschon´ mein Haus, streich´ andere an… Die bunte Stadt in den klaren Farben des Expressionismus löste in Magdeburg heftige Diskussionen aus, die jedoch 1933 ein abruptes Ende fanden.

 

REALITÄT – im Osten tauts (Winfried Brenne, 1995)


Am 16. Januar 1945 wurde Magdeburg zerstört und wieder – wie schon nach der totalen Zerstörung durch den 30-jährigen Krieg (ca. 30.000 Einwohner, am Kriegsende ca. 500) – war die Kraft, der Wille bei den Magdeburgern vorhanden, die Stadt aufzubauen (am Kriegsende ca. 100.000 Einwohner, 1946 ca. 230.000 Einwohner durch die Flüchtlinge aus dem Osten).

 

Das Genossenschaftswesen, aus der Wohnungsnot geboren, hat in Magdeburg eine über hundertjährige Tradition, und viele der in sich geschlossenen Siedlungen aus unterschiedlichen Zeiten sind noch vorhanden. Es ist nicht verwunderlich, dass beim Neuaufbau der Stadt die Genossenschaften und Wohnungsbaukombinate eine wesentliche Rolle spielten. Die städtebaulichen Leitbilder nach dem Zweiten Weltkrieg (16 Grundsätze zum Wiederaufbau der Städte in der DDR), das Verlassen der historischen Stadtgrundrisse und der oftmals fehlende Erwerb der Grundstücke haben in der Nachwendezeit neue Konflikte ausgelöst. Es fehlt der Altstadt trotz der vielen Neubauten noch an Dichte und an Zeugen der agglutinierenden, sukzessiven Bauweise, die den Wandel der letzten tausend Jahre Stadtgeschichte zeigen. Heute sind in der Innenstadt noch immer Zeichen von der totalen Zerstörung zu finden. Die Spuren sind deutlich nachvollziehbar, die wiederverwendeten Bauteile, jedes Öffnen der Erde, jede Baugrube in der Innenstadt lassen einen Blick in die tausendjährige Geschichte zu.

 

Die heute dynamischen Veränderungen in den neuen Bundesländern sind von einem energischen Druck politischer, sozialer und wirtschaftlicher Interessen bestimmt – jedoch haben sich die hochgesteckten Bevölkerungsentwicklungen (Ziel 1990 von 290.000 auf 330.000 Einwohner, real 235.000) und wirtschaftlichen Ziele nicht erfüllt. Es setzte eine Entwicklung ein, die oft neben den positiven Veränderungen mit dem Verlust der Eigenart bestimmter Städte (wie in den alten Bundesländern) verbunden ist. Das trifft nicht nur für das Zentrum Magdeburgs und die Großwohnsiedlungen, sondern auch für die dörflichen Strukturen, für die Kulturlandschaften in den Stadtrandbereichen – im Weichbild der Stadt – zu.

 

Wohnungsleerstand und Brachen in innerstädtischen Bereichen (z. B. Industrie- und Bahnanlagen, Kasernen und aufgegebene Kultur-, Schul- und Kindergartenstandorte) bestimmen das heutige Stadtbild und belasten die positiven Entwicklungen der letzten Jahre. Ein Konflikt, der sich nicht nur in der Architektur spiegelt, sondern auch von der gesamten unterirdischen, technischen Infrastruktur belastet ist. Die damit verbundenen wirtschaftlichen Sorgen treffen nicht nur den privaten Wohnungseigentümer, sondern in hohem Maße die Wohnungsgesellschaften und Genossenschaften und wird damit zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem.

 

 

ZUKUNFT – wehret den Prinzipien (Bruno Taut, 1925)


Visionen für die Stadt der Zukunft beschäftigen dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands in der Mitte Europas die Stadtplaner mehr als je zuvor, nicht als „l’art pour l’art”, sondern als Positionsbestimmung der heutigen Gesellschaft. Schlagworte wie „agenda 21”, die „Soziale Stadt”, „der Grüne Ring“, „Urban 21” und „Rahmenplan Innenstadt 2022“ wollen mit Leben gefüllt sein. So stellen sich auch die Fragen: „Ist das oft romantisierende Bild der mittelalterlich geprägten Stadt, das Wohnen in der Stadt noch zeitgemäß, welche Aufgaben erfüllt die Stadt der Zukunft im neuen Europa und kann eine Kontraktion der Kräfte die Städte vitalisieren.” 

 

Der Versuch mit diesen Fragen das „Frühlicht” von Bruno Taut wieder aufleben zu lassen, hat zu interessanten Briefwechseln geführt, die vom Stadtplanungsamt Magdeburg unter dem Titel „Von Magdeburg nahm ein Frühlicht seinen Weg – Gedanken zur Zukunft der Stadt” veröffentlicht worden sind (Heft 75, Stadtplanungsamt, Dr. E. W. Peters, 2000)

 

Das Magdeburger Stadtumbaukonzept, der Flächennutzungsplan, das räumliche Leitbild, das Integrierte Stadtentwicklungskonzept 2025 und der Rahmenplan Innenstadt (2022) zeigen heute Wege auf, die mittelfristig zum Erfolg führen sollten. Die Chancen liegen in der Eigenart der Stadt in der Börde und dem Elbeurstromtal in verkehrsgünstiger Lage, und wie die Magdeburger Einwohner mit ihrer Stadt umgehen, begründet, wobei zwischen der Altstadt, den Großwohnsiedlungen und den ländlichen Randgebieten unterschieden werden muss. Auch wenn die Städte sich zu Europa öffnen, verlieren sie ihre regionale Bedeutung nicht. Der genius loci, die wirtschaftliche und politische Kraft, die Dichte, die Multifunktionalität, die Tradition oder – vielmehr die Elbestädter bestimmen die Stadt der Zukunft. 

 

Magdeburg ist nicht mehr die Stadt des Schwermaschinenbaus, sondern wird zukünftig neue Aufgaben als Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts erfüllen und das nicht nur im Verwaltungsbereich. Die günstige Lage im Verkehrsknotenpunkt Mitteldeutschlands erhöht deutlich die Qualität als Wirtschaftsstandort. Besonders viele junge Menschen zieht es an die Otto-von-Guericke-Universität und die vielen An-Institute sowie die Fachhochschule Magdeburg/Stendal. Daneben ist der Trend zu erkennen, dass immer mehr Touristen die Stadt aufsuchen, um den Hauch der Geschichte zu verspüren – über Kaiser Otto, Otto von Guericke, Kaiser Napoleon, Ernst Reuter oder die Grüne Zitadelle zur Jetztzeit.

 

Traditionen im Sinne Bruno Tauts wie die „Siedlungen der zwanziger Jahre”, der „Neue Bauwille” oder die „farbige Stadt” spielen dabei eine große Rolle, sie sind aber keine Patentrezepte für die Stadt der Zukunft. Es wird für alle Städte nur individuelle Lösungen mit der Bürgerschaft geben können, wobei das Ziel einer l(i)ebenswerten Stadt nicht aus dem Auge verloren werden sollte. Jenseits von allen stadträumlichen Leitbildern – sei es nun die perforierte oder die dichte Stadt – wird die Zukunftsfähigkeit der „europäischen“ Stadt auch daran gemessen, ob es gelingt, die geistige und kulturelle Einheit Europas zu stärken sowie die ökologischen, energetischen und ökonomischen Probleme zu bewältigen, trotz Corona und des russischen Angriffskrieges in der Ukraine – die heutigen Bilder erinnern mich sehr an die Zerstörung Magdeburgs im Zweiten Weltkrieg. Der Wunsch, die Forderung von Käthe Kollwitz „Nie wieder Krieg” nach dem Ersten Weltkrieg in den 1920er Jahren hat sich schon mit dem Zweiten Weltkrieg nicht erfüllt. Gerade angesichts des internationalen, zumindest europäischen Koordinationssystems unserer Lebenszusammenhänge muss die Bürgerschaft in der Stadt, in der Stadtregion und Kulturlandschaft ihrer Heimat, in der Lebensgemeinschaft ihre Identität und ihre innere Ruhe finden.

Seite 10-12, Kompakt Zeitung Nr. 227

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