Am Wissen der Welt scheitern

Tina Heinz

Foto: Anjelika Conrad

Wenn man Sofie Neu lauscht, wie sie den Entstehungsprozess des Stücks „Le Grand Tour“ beschreibt, das am 17. März 2023 im Puppentheater Magdeburg seine Uraufführung feiert, stellt man sich unweigerlich vor, wie ein paar Personen, zusammen in einen Raum gesperrt, in Arbeit ersticken. So dramatisch, wie das klingen mag, war es sicher nicht. Doch die Anzahl der gesammelten Materialien – von Enzyklopädie-Seiten bis hin zu Flohmarkt-Funden – muss ungeheuerlich groß gewesen sein und die Entscheidung, was davon im Stück Verwendung finden soll, ungeheuerlich schwer.

 

Die 30-jährige Sofie Neu, die aus Karlsruhe stammt und seit der Spielzeit 2021/2022 am Puppentheater Magdeburg als Dramaturgin tätig ist, beschreibt die Arbeit zu „Le Grand Tour“ als lebendigen Prozess. „Wir haben uns häufig zu viert abgestimmt: Regisseur Nis Søgaard, Florian Kräuter, der die Idee zum Stück hatte, selbst spielt und für die Ausstattung zuständig ist, Richard Barborka, der ebenfalls spielt und für das Videokonzept sowie die Musik verantwortlich ist, und ich. Wir haben monatelang recherchiert, Artikel der Enzyklopädie von Diderot gelesen, Florian hat Dinge, die für das Stück von Bedeutung sein könnten, bei Flohmärkten und auf Ebay zusammengesucht, sodass es bei uns am Ende aussah wie bei einem wahnsinnigen Professor.“ All das zu sichten, zu entscheiden, was gebraucht und wie mit historischem sowie neuem Material gearbeitet werden würde und schließlich aus der Masse an Informationen das Stück zu verfassen, sei daher eine große Herausforderung gewesen.

 

Die von Sofie Neu erwähnte Enzyklopädie des französischen Schriftstellers und Philosophen Denis Diderot (1713 bis 1784) gilt als eines der Hauptwerke der Aufklärung und umfasst mehr als 70.000 Artikel. Die Grundidee der „Enzyklopädie oder ein durchdachtes Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Handwerke“ – so der komplette Titel – war, das gesamte Wissen der Zeit zu sammeln und der Welt öffentlich zugängig zu machen. Dieses größenwahnsinnige Projekt ist die Basis von „Le Grand Tour“ und als roter Faden führt das indische Panzernashorn „Clara“, das Mitte des 18. Jahrhunderts über Jahrmärkte und Königshöfe tourte und auch in Diderots Enzyklopädie aufgenommen wurde, durch das Stück. Florian Kräuter und Richard Barborka nehmen als Philosophen die Gäste des Puppentheaters mit auf eine Reise durch das 18. Jahrhundert und kreieren einen Reigen aus skurrilen Nummern mit Fundstücken, Papiertheater-Sets, Live-Kameras und Nasenflöte.

 

„Auf die Geschichte des Nashorns ist Florian Kräuter gestoßen“, erzählt Sofie Neu, die das Dramaturgie-Studium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin absolviert hat. „Und ihr Schicksal hat uns dazu bewegt, uns mit dem Thema Wissensdrang und Wissensaneignung, dem menschlichen Umgang mit Tieren sowie der Kolonialpolitik auseinanderzusetzen.“ Denn Clara hat die Vorstellung vom Aussehen eines Nashorns in Europa geprägt, zuvor war nur Albrecht Dürers weit verbreiteter Holzschnitt eines Rhinozeros bekannt. Alle anderen Nashörner, die die Seereise nach Europa überlebt hatten, waren nach kurzer Zeit in Gefangenschaft gestorben, sodass Forscher und Künstler kaum Gelegenheit zur lebendigen Anschauung hatten. „Dieses zweischneidige Schwert – der Wissensdurst der damaligen Zeit auf der einen, der Preis, den Tiere und Menschen dafür gezahlt haben, auf der anderen Seite – das ist es, was uns so mitgenommen hat.

 

Changierend zwischen abstrakter und poetischer, stets bilderreicher Erzählweise erzählt „Le Grand Tour“ (für Menschen ab 16) vom Größenwahn dieser Zeit: „Mit dem Ziel, alles Wissen der Welt zu sammeln, damit am Ende alles gut wird, kann man nur scheitern – das lässt sich auch in die heutige Zeit übertragen“, meint Sofie Neu.

 

Karten für das Stück gibt es noch für den 23. März, 20 Uhr, unter puppentheater-magdeburg.de. Restkarten für den 21. März, 20 Uhr, sind gegebenenfalls an der Abendkasse erhältlich.

Seite 19, Kompakt Zeitung Nr. 228

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