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Nicht nur was für ganz Schlaue

Rudi Bartlitz

Schach boomt derzeit gewaltig. Nicht nur analog, sondern vor allem virtuell. Wird das königliche Spiel bald zum globalen Massensport?

Noch so jung – und doch schon so klug. Der Name Hussain Besou tauchte in den vergangenen Wochen erstmals im TV und auf den Sportseiten der Zeitungen auf. Ausnahmsweise handelt es sich nicht um das soundsovielte begnadete Fußballtalent aus fernen Staaten, sondern um die vielleicht größte Schachhoffnung, die Deutschland derzeit hat. Jetzt steht der Elfjährige, der vor fünf Jahren mit seinen Eltern aus Syrien flüchtete, sogar vor seinem Debüt in der deutschen Nationalmannschaft – der Erwachsenen. Im April soll der Schüler aus dem westfälischen Lippstadt für den Deutschen Schachbund (DSB) beim traditionsreichen Mitropa-Cup in Kroatien am Brett sitzen. Bei internationalen Wettkämpfen im Jugendbereich tritt Hussain seit Jahren als Deutscher an; was im Schach auch ohne Staatsbürgerschaft möglich ist, wenn man nicht zuvor für ein anderes Land gespielt hat.


Solange seine Erinnerung zurückreiche, erzählt Besou, sei er vom königlichen Spiel fasziniert gewesen. Schon in seiner Heimat habe er stundenlang Vater und Großvater zugeschaut oder selbst am Laptop gespielt. „Hussain hat zuletzt sehr ansprechende Leistungen gezeigt“, begründete Nachwuchsbundestrainer Bernd Vökler die Nominierung fürs deutsche Nationalteam. In der aktuellen Weltrangliste U12 liegt Besou auf dem zweiten Platz, bei den Jugend-Weltmeisterschaften gewann er zuletzt die Bronzemedaille. Für sein Debüt bei den Großen hat sich der ehrgeizige Junge gleich ehrgeizige Ziele gesteckt. Er möchte durch gutes Abschneiden bei dem Turnier die Norm zum „Internationalen Meister“ – eine Zwischenstufe auf dem Weg zum angestrebten Großmeistertitel – erfüllen. 


Noch nie war ein deutscher Nationalspieler jünger. Den Rekord hält bislang Vincent Keymer, der jüngst Vizeweltmeister im Blitzschach wurde. Bei seinem ersten DSB-Einsatz war er zwölf Jahre und zehn Monate alt. Der heute 18-Jährige ist der bisher jüngste deutsche Großmeister, den dieses Land hervorgebracht hat. Was sagt uns all das? Zum einen: Schach boomt gewaltig, gerade infolge von Corona und Lockdown. Zum anderen: Die Akteure am Brett werden immer jünger. Um Belege für letzteres zu finden, muss man nicht einmal tief und weit in den Westen schauen, der Heimat von Keymer und Besou. Nein, sie sind auch gleich vor der Haustür zu finden.


Bei den „Schachzwergen Magdeburg“ zum Beispiel. Die 2009 ins Leben gerufene Gemeinschaft, die inzwischen Landesleistungsstützpunkt geworden ist und sich selbst als „der größte Schachverein Deutschlands“ rühmt, wendet sich insbesondere an Kinder und Jugendliche. „Schach ist ein Spiel“, heißt es etwas holprig-gespreizt auf der Homepage, „dessen Regeln auch für Kindergartenkinder verständlich sind. Durch spielerisches Vermitteln der grundlegenden schachlichen Inhalte in kurzen Zeiträumen von bis zu 15 Minuten (dies entspricht der maximalen Konzentrationsdauer von Kindergartenkindern) ist das schrittweise Erlernen des Schachspiels möglich.“ Hinzufügen ließe sich: Schach ist nicht nur was für Schlaue, es macht auch schlau. An rund 50 Stätten im nördlichen Sachsen-Anhalt – darunter allein 36-mal in Magdeburg – vermitteln „Zwerge“-Trainer alles, was der Neuling über das Spiel mit König, Dame und Bauern wissen muss. Ein Blick auf den Plan einer beliebigen März-Woche weist allein 75 Veranstaltungen an Schulen und Kitas aus.


Schach wird nicht nur jünger, das Publikum wird immer größer. Die Zahlen des Booms sind gigantisch. Die Netflix-Serie „Das Damengambit“ begeisterte ihre Zuschauer während der Pandemie für das Spiel. Das Schachportal Chess.com verkündete kurz vor Weihnachten 100 Millionen Mitglieder, im Juni 2020 waren es noch 35 Millionen gewesen. Zuletzt mussten Turniere unterbrochen werden, weil die Server des Anbieters überlastet waren. Streams auf YouTube oder Twitch sammeln Zigmillionen Abrufe. Schätzungen zufolge spielen mittlerweile 600 Millionen Menschen weltweit regelmäßig Schach, analog oder virtuell.


Dabei kann Schach ein durchaus brutaler Sport sein. Es ist ein Kampf. Weiß gegen Schwarz. 64 Felder, 32 Figuren. Kopf gegen Kopf. Zug um Zug. Was so einfach klingt, ist eines der komplexesten Spiele überhaupt. Nach dem ersten Zug von Weiß und Schwarz gibt es bis zu 400 verschiedene Stellungen auf dem Brett. Nach dem zweiten sind es bereits 72.084 verschiedene Möglichkeiten. Selbst Mathematiker können nicht mehr präzise berechnen, wie viele verschiedene Konstellationen nach dem dritten Zug möglich sind.


In ihrem Eroberungszug rund um den Erdball entwickeln umtriebige Schach-Manager heute immer neue Formen des Spiels. Die Normen setzt der Zeitgeist. Nur: Attraktiv und gut verkaufbar muss es sein. Und vor allem schnell. Adrenalinfördernd. Nichts mehr da mit älteren gesitteten Herren in gediegenem Tuch, die sich stundenlang schweigend an einem Brett gegenübersitzen – und grübeln. Gähn. Ratzfatz muss es gehen. Genau dafür glaubt man jetzt, ein neues ultimatives Format gefunden zu haben. Name: Armageddon Championship Series. 32 Weltklassespieler und  -spielerinnen kämpfen in fünf Turnieren um ein Preisgeld von immerhin schlappen 460.000 Euro.


Gespielt wird im rasanten und extrem intensiven Blitzformat. Es ist von Zugabständen von zwei Sekunden die Rede. Keine Partie soll länger als zehn bis zwölf Minuten dauern! Für das Spektakulum wurde eigens ein TV-Studio im Herzen Berlins eingerichtet. Der Clou: Die Spieler sind verkabelt. Zuschauer können – berichtet Ilja Merenzon, der Chef vom Ausrichter World Chess – Herzschlag-Frequenz und selbst den Kalorienverbrauch der Akteure am Brett verfolgen. Es lebe der gläserne Schachspieler. Selbst bei Leuten der Weltklasse sollen in der Endphase einer Partie 170 Herzschläge pro Minute gemessen worden sein. „Armageddon ist die Formel 1 des Schachs“, behauptet Merenzon. Nichts weniger als eine „Innovation auf dem Weg zum globalen Massensport“. Sollte nicht vorher, werfen Kritiker vorsichtig ein, ein KI-Programm namens ChatGPT (oder eine seiner Mutationen) kräftig dazwischenfunken …

Seite 38, Kompakt Zeitung Nr. 230

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