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Nachts in der Villa Gruson

Beate M. Kunze

Die ehemalige Villa Gruson an der Freien Straße wird derzeit umfassend saniert. Foto: Peter Gercke

Es ist lange her, dass die ehemalige Villa Gruson als Betriebspoliklinik von „Thälmanns“ genutzt wurde. Mit „Thälmanns“, das wusste zumindest jeder Magdeburger, war das Schwermaschinenbau-Kombinat „Ernst Thälmann“, kurz SKET, gemeint. Ich arbeitete von 1976 bis zu meinem Umzug nach Wismar 1982 als Krankenschwester auf einer kleinen Station mit etwa 20 Betten, die der Poliklinik angegliedert war.


Ehemals war die Villa, die nun auf dem Betriebsgelände stand, Eigentum der Friedrich-Krupp AG. Man sah ihr an, dass sie schon bessere Zeiten erlebt hatte. Magdeburg wurde schon 1943 durch intensive Luftangriffe stark zerstört, 1944 fiel das Werksgelände in Buckau den Bombardierungen zum Opfer, und am 16. Januar 1945 griffen nochmals etwa 400 britische Bomber die Stadt an. Die Grusonsche Villa hat diese Angriffe überstanden.


Ich war in dem nun medizinisch genutzten Gebäude auf der Station im 3-Schicht-System tätig. Wir hatten keine schwerstkranken Fälle, die Zeit reichte immer, unsere Patienten zu verwöhnen. Selbst ein kleines Zimmer für erkrankte Familienangehörige des Pflegepersonals stand im Bedarfsfall zur Verfügung. Das kollegiale Arbeitsklima konnte man fast freundschaftlich nennen. 


Im Spät- und Nachtdienst war eine Schwester mit den Patienten allein. Nur ein ärztlicher Bereitschaftsdienst blieb in dem dafür vorgesehenen Zimmer auf dem ausgebauten Boden. Im Spätdienst bestand unsere Hauptaufgabe darin, Verbände zu erneuern, Einreibungen, diverse Wickel, Wärmflaschen und Eisbeutel zu verabreichen und abends die sorgsam auf das Krankheitsbild abgestimmten Diäten auszuteilen, ebenso die verordnete Medizin. Später wurde abgewaschen, einen Geschirrspüler gab es noch nicht. Dafür standen 2 riesige Becken zur Verfügung. Aber, ganz so problemlos verlief es doch nicht immer, denn wir hatten die Notdienstversorgung mit zu übernehmen. Da der damalige Stadtteil Buckau nicht gerade den Ruf einer Nobelgegend genoss, hat sich mehr zugetragen, als uns manchmal lieb war. Von ein paar Erlebnissen des Nachts in der Villa Gruson möchte ich Ihnen berichten.


 Ich hatte Nachtdienst und war mit der üblichen Arbeit wie Dienstzimmer aufräumen, Medizin für den nächsten Tag zusammenzustellen und einer Kontrollrunde fertig. Nun saß ich in der Küche, um Kartoffeln zu schälen. Unsere 2 Köchinnen hatten uns diese Arbeit aufgetragen, Zeit hatten wir dazu. Diese Tätigkeit konnte schon mal 3 Stunden in Anspruch nehmen vor der neuen Ernte. 


Gegen Mitternacht schlug die Glocke an. Mein Adrenalinspiegel stieg, denn ich musste über die lange, breite kostbare Treppe aus edlem Holz im hell erleuchteten Foyer nach unten laufen. Und man sah nur die im Lichte, die im Dunkel sah man nicht. Das heißt, ich wurde gesehen, sah aber selbst nicht, wer da Einlass begehrte. Das war eine recht gefährliche Sache, wir Schwestern waren dem Unbekannten da draußen schutzlos ausgeliefert.


In dieser Nacht stand ein übelriechender und auch äußerlich seinem Geruch alle Ehre machender Mann mittleren Alters vor der Tür und gestikulierte unartikuliert. Manchmal bedurfte es schon eines 6. Sinnes, bis man die Katastrophen verstehen und einzuschätzen vermochte. Es handelte sich angeblich um Kartenspiel und Messerattacken. Der Mann selbst war nicht erkennbar verletzt. Ich ließ ihn vor der Tür warten und benachrichtigte den Bereitschaftsarzt. Es stellte sich heraus, dass nur wenige Eingänge weiter eine Gruppe Kartenspieler in Streit geraten war und es zu eben dieser angeblichen Messerattacke gekommen war. Nun war es nicht üblich, dass wir das Haus verließen, dazu gab es ja die offiziellen Rettungsstellen. Außerdem hätten wir nicht 20 Patienten allein lassen dürfen. Aber der Tatort lag so nah, und der Arzt entschied, wenigstens nachzusehen, um eventuell Leben retten zu können. Und so liefen wir über die Straße in das Haus. Dort saßen friedlich die Kartenspieler, zwei schliefen ihren Vollrausch aus, einer stierte vor sich hin, nichts deutete auf eine Katastrophe oder einen Streit hin. Ungewöhnlich war nur der uns zugewandte unbekleidete Rücken einer Frau. Auch sie saß seelenruhig auf ihrem Platz. In ihrem Rücken steckte ein Messer. Die Einstichstelle blutete nicht. Die Ruhe der Anwesenden nahm der Situation fast die Dramatik, eine schwer zu realisierende Atmosphäre. 


Während der Arzt vorsichtig den Zustand zu beurteilen versuchte, sah ich mich in der Küche um. Am lebhaftesten ist mir noch der Herd in Erinnerung, der unter seiner Kruste kaum noch erkennbar war. Alles war äußerst verwahrlost. 


Eindringlich wurde der Frau geraten, sich weiterhin nicht zu bewegen, wir liefen zurück in die Klinik, Mobiltelefone gab es damals noch nicht, und der Arzt veranlasste alles Nötige. Die Frau wurde mit dem Rettungswagen in die Akademie gebracht und dort versorgt. Wir haben nichts wieder über das Geschehen gehört, die Zeitungen schrieben darüber damals nichts. 


Ein anderes Mal, wie immer hoffte ich, die Glocke möge in dieser Nacht nicht anschlagen, ertönte auch schon ihr Läuten. Sturm! Mehrmals. Ich hatte die Tür nur einen Spalt geöffnet, als ein Mann hereinstürmte, die Tür hinter sich zustieß und mich panisch beschwor, sofort wieder zuzusperren. Dabei fuchtelte er mit Armen und Beinen um sich, hüpfte auf einem Bein, das andere war offensichtlich verletzt und stammelte etwas von Verfolgung und Schusswechsel. Zu den Zeiten dachte noch kein Mensch an solche Geschichten. Der Mann ließ sich nach einer ganzen Weile halbwegs beruhigen und versteckte sich in einer Nische. Ich lief die Treppe hoch und klingelte die Bereitschaftsärztin aus dem Schlaf.


An diesem Abend hatte eine Gynäkologin Dienst. Dann rief ich die Betriebswache an. Es dauerte etwas, bis die Ärztin kam, noch ein bisschen länger mussten wir auf die beiden Wachleute warten. Der eine hatte ein Fahrrad, der andere nicht, und so schob Ersterer seins kameradschaftlich nebenher. Das Betriebsareal war ziemlich weitläufig, ein Zeitgefühl hatte ich nicht. Der Verletzte kauerte immer noch in der Nische. Als die Ärztin kam, zum Glück eine ziemlich burschikose Frau, erregte er sich aber aufs Neue und hüpfte hin und her. Seine Personalien aufzunehmen war unmöglich. Und immer wieder rief er, er wäre angeschossen worden, ließ sich aber nicht untersuchen. Wir befanden uns immer noch in der Empfangshalle. Endlich kamen die Wachen. Aber sie konnten dem Mann nichts Konkretes entlocken. Der hatte sich nun an mich gepresst und verlangte plötzlich von mir, mit ihm um die Ecke auf den Hof zu gehen. Er wollte sich nur mir anvertrauen und somit das gespenstische Szenario aufklären. Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, als die Wachen mich aufforderten, der Forderung nachzukommen. Natürlich tat ich das nicht. Schließlich hakten sie den Verletzten unter und verließen das Areal. Der unwirkliche Anblick, der sich aber auf dem Hof bot, den werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Es war eine Vollmondnacht, der Hof taghell und er glitzerte im Mondlicht wie im Film. Als hätte es Sterntaler geregnet, lagen überall Münzen verstreut. Wir haben keine eingesammelt. Wir haben die Tür schnellstens verschlossen, die Ärztin ging wieder zu Bett, und ich schrieb akribisch meinen Bericht. Später erfuhren wir, dass der Mann einen Konsum überfallen hatte und von einem Luftgewehr getroffen wurde. Mehr darüber niemals. Und aus der Zeitung hätten wir es auch nie erfahren, denn eigentlich gab es kaum Raubüberfälle zu den Zeiten. Auch keine kleinen.


Und auch das folgende Erlebnis ist mir in lebhafter Erinnerung geblieben. Wieder saß ich in der Stationsküche beim Kartoffelschälen. Wieder hoffte ich, eine ruhige Nacht ohne außergewöhnliche Vorkommnisse hinter mich zu bringen, aber vergeblich. Gegen 2 Uhr morgens ertönte die Glocke mehrmals hintereinander, das verhieß nichts Gutes. Vor der Tür standen ein junger Mann und eine ältere Frau, seine Mutter, wie sich herausstellte. Diese war angeblich gestürzt und hatte sich, das war offensichtlich, das Handgelenk gebrochen. Ich nahm die beiden mit hoch ins Dienstzimmer, benachrichtigte den Arzt, den ich erst von der Notwendigkeit überzeugen musste, doch besser aufzustehen, um sich die Verletzung anzusehen, und nahm die Personalien auf. Das Pärchen war unheimlich. Der junge Mann beschrieb immer wieder hektisch den Hergang des Unfalls, und wirkte immer unglaubwürdiger. 


Die Frau muss höllische Schmerzen gehabt haben, das Handgelenk war stark geschwollen und hatte schon eine lila Farbe angenommen. Vermutlich war die Verletzung schon etwas älter.  Irgendwann kam der verschlafene und wortkarge Arzt, sah sich die Hand an, murmelte etwas von „Verband“ in meine Richtung, und bestellte die Patientin für den nächsten Tag zum Röntgen und Reponieren. Ich wurde die beiden nach Gabe eines Schmerzmittels erleichtert ohne weitere Zwischenfälle los, nur nicht das mulmige Gefühl, das mich beschlichen hatte. Tage später sah ich in der Zeitung ein Phantombild der beiden. Auch die Handverletzung war angegeben. Sie hatten eine Rentnerin oder einen Rentner „geschädigt“, und die Frau hatte sich dabei die Verletzung zugezogen. Das Buch, in das sorgfältig jeder Notfall akribisch eingetragen wurde, enthielt natürlich auch die Personalien. Als ich die Phantomzeichnung sah, war sofort klar, um wen es sich da handelte. Ich teilte meine Mutmaßung meiner stellvertretenden couragierten Stationsschwester Helga mit. Diese rief sofort die angegebene Nummer an, und zwei Kriminalbeamte kamen bald darauf auf die Station. Ich zeigte ihnen meine Aufzeichnungen, wurde kurz befragt, und dann ließen sie sich zu dem Arzt führen, der in der Nacht Bereitschaftsdienst hatte. Er wusste nicht viel dazu zu sagen, hatte ja kaum aufgeguckt und konnte sich an den „vermeintlichen Spuk“, wie er meinte, kaum erinnern. Aber in meinen Aufzeichnungen stand alles schwarz auf weiß.


Das Pärchen ist seiner Strafe nicht entkommen, wie auch immer sie ausfiel. Auch in der Zeitung hat nicht gestanden, dass sie mit Namen und Adresse dank einer aufmerksamen Krankenschwester ausfindig gemacht werden konnten. Allerdings ist Tage später ein Polizeibeamter vorbeigekommen, hat sich bei dem Arzt bedankt und ihn mit einem Blumenstrauß beglückt. Ich hätte mich auch darüber gefreut, denn Blumen waren zu der Zeit noch etwas ganz Besonderes.


Apropos Blumen, hier sei noch angemerkt, dass wir uns jedes Jahr im Frühjahr an der Blütenpracht eines japanischen Zierapfelgehölzes erfreuten, das in dem Rest des verbliebenen Gartens neben der Villa stand. Für uns ein kleiner Gruß des besonders botanisch interessierten Bauherrn der Villa, des Ingenieurs Hermann August Jacques Gruson, dessen Großzügigkeit die Magdeburger die Grusonschen Gewächshäuser zu verdanken haben.

Seite 14-15, Kompakt Zeitung Nr. 230

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