Demografie öffentlicher Meinung
Thomas Wischnewski
Virtuelle Sphären ragen heute in alle Lebensbereiche hinein. Dabei werden in Sphären von Meinungsräumen demografische Einflüsse der Kommunikationsteilnehmer bisher nicht berücksichtigt. Denn das Phänomen, dass eine junge Minderheit mehrheitlich Inhalte im Internet hervorbringt, ist für die Kommunikation zwischen Generation neu für die Menschheit.
Die Verbreitung der Internetnutzung, mobile Kommunikation, Computer, die in die Hand passen – all das bezeichnen wir zum Beispiel als digitale Revolution. Die Welt hat sich seit mehr als 20 Jahren derart gewandelt, dass die sogenannte Generation Z (von 1996 bis 2012 Geborene) kaum noch beschreiben kann, wie sie ihr Leben komplett analog organisieren könnten. Dafür treten die Vertreter dieser Generation auf andere Weise in den Vordergrund.
Die Schattenseiten einer vermeintlichen Anonymität im Internet werden häufig mit Hassrede, öffentlicher Wahrnehmung von Dummheit, Cyberkriminalität bis hin zu Mobbing und psychischem Stress oder gar Vereinsamung beschrieben. Am Anfang wollten sogenannte Soziale Medien die Menschheit glücklicher machen. Das scheint gehörig schiefgegangen zu sein. Und obwohl nachweislich eine Minderheit online schreibt und kommentiert, erhält man den Eindruck, als würde man von Meinungen erdrückt. Das ZDF zählte im Jahr 2019 auf den eigenen Social-Media-Kanälen über sieben Millionen Kommentare. Die enorme Anzahl produzierte jedoch nur ein kleiner Teil Nutzer. Dr. Marc Ziegele, Medienwissenschaftler der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hat untersucht, dass etwa zehn Prozent der aktivsten Nutzer für ungefähr 50 Prozent der Inhalte verantwortlich sind. Solche Aspekte sind seit längerem bekannt. Vor zehn Jahren waren es sogar nur etwa 2 Prozent.
Eine andere Erscheinung wird zur Entwicklung der gesellschaftlichen Meinungsäußerung im virtuellen Raum kaum ins Feld geführt, nämlich ein demografisches Kuriosum: Generationen, die im Prä-Internetzeitalter geboren wurden – und die stellen immer noch die Mehrheit der Bevölkerung – hatten als junge Menschen keine Meinungsbühne außer dem privaten Umfeld. Weder wurden sie in Talkshows eingeladen, deren Anzahl auf wenigen TV- und Radiokanälen klein war, noch konnten sie selbst irgendwelche bedeutsamen medialen Bühnen besteigen. Maximal die Trends von Musik und Mode waren stets jugendinspiriert. Die Macht über deren Verbreitung lag wiederum wirtschaftlich in der Hand der Alten.
Ein paar Zahlen zur Veranschaulichung: 25,1 Millionen Menschen in Deutschland gehören in die Bevölkerungsgruppe der zwischen 14- und 39-Jährigen. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung beträgt 29 Prozent. Alle Älteren ab 40 Jahren repräsentieren 58 Prozent, also doppelt so viele Menschen. Aber unter diesen knapp 30 Prozent Jüngeren sind fast 40 Prozent online und sie haben die längste Online-Nutzungsdauer. Nur rund 42 Prozent der 40 bis 69-Jährigen sind Internetuser. Durchschnittlich nutzen Personen ab 14 Jahren das Internet täglich für 234 Minuten, 160 Minuten werden mediale Angebote genutzt, 59 Minuten für private Kommunikation und 62 Minuten für Sonstiges. Bei der Altersgruppe von 14-29 sind es gar 413 Minuten tägliche Internetnutzung, 284 Minuten für mediales Internet, 100 Minuten für private Kommunikation und 133 Minuten für Sonstiges. Der Bevölkerungsdurchschnitt für die tägliche Internetnutzungsdauer beträgt 160 Minuten. Unter den 14- bis 29-Jährigen werden Soziale Medien zu 88 Prozent wöchentlich und zu 69 Prozent täglich genutzt. Bei den 30- bis 49-Jährigen liegt die wöchentliche Nutzung nur bei 69 Prozent, die tägliche bei 43 Prozent. In der Altersgruppe der 50- bis 69-Jährigen wird Social Media wöchentlich nur noch zu 33 Prozent und täglich zu 19 Prozent genutzt. Die Generation 70+ nutzt Social-Media-Angebote wöchentlich nur zu 10 Prozent.
Die Zahlen machen deutlich, dass beim Bevölkerungsanteil der unter 40-Jährigen offenbar die Dominanz der Online-Nutzung liegt. Vermutlich stellen sie deshalb auch die Mehrheit der Meinungsäußerungen. Und selbst, wenn sich die Kommentare zwischen Jungen und Alten die Waage hielten, ist die Kraft der Kommunikation jüngerer Generationen eine völlig neue Erscheinung für die Menschheitsgeschichte. Zumindest stimmt hier wohl die Behauptung, dass die öffentliche Meinung von der kleineren Gruppe der Gesellschaft dominiert wird.
Abgesehen von politischer Einordnung müssten deshalb auch entwicklungspsychologische Aspekte in Debatten über die Meinungsverbreitung eine Rolle spielen. Man kann das Phänomen verkürzt so beschreiben: Eine Minderheit lebensunerfahrener Individuen – vielleicht auch mit einem geringeren Potenzial an Wissen ausgestattet – bestimmt den Meinungsraum. Eine Mehrheit der Älteren kommt dabei weniger vor. Allenfalls im klassischen Fernsehen möge die Mehrheit der Inhalts-erzeuger noch von älteren Generationen vertreten werden. Allerdings ist hier zu berücksichtigen, dass laut einiger Medienforschungen der überwiegende Teil der journalistischen Mitarbeiter im Öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) eher dem Spektrum einer linken und grünen Anhängerschaft zuzurechnen ist. Dass deren Medienkonsumenten wiederum vor allem noch unter älteren Generationen zu finden sind, könnte als Indiz für die Diskrepanz von Ansichten zwischen Medienmachern und ihren Rezipienten gelten.
Der ÖRR muss jedoch als Inhaltskatalysator im Internet gesehen werden, weil dort neben 21 TV- und 73 Radiosendern von den Anstalten eine Vielzahl an Online-Angeboten und Social-Mediakanälen betrieben werden.
Zurück zur Altersverteilung in der gesellschaftlichen Kommunikation. So wie das Internet selbst das gesamte Leben in allen Entwicklungen beeinflusst, wird auch die Teilnahme und Intensität unterschiedlicher Altersgruppen den Diskurs in der Gesellschaft verändern. Dies könnte als ein wesentlicher Aspekt für die heute öfter erlebbare „Cancel Cultur“ sein bzw. eine Rolle für die Wahrnehmung verengter Meinungskorridore sein. Jüngere Menschen neigen eben eher noch zu verengender Beurteilung und vertreten öfter noch verkürzt aber selbstbewusst Überzeugungen.
Wenn dieses demografische Kommunikationsphänomen bei der inhaltlichen und politischen Beurteilung keine Berücksichtigung findet, die Gesellschaft sich über den Wandel der Generationenkommunikation nicht bewusst wird, kann sich eine politische Spaltung verschärfen. Nicht die inhaltliche Quantität eines bestimmten Meinungsspektrums kann die demokratische Verfasstheit stabilisieren, sondern die Akzeptanz der vielen unterschiedlichen Ansichten. Zurückweisung wird eher zu verschärften Grabenkämpfen führen. Es ist gut, wenn heute junge Menschen mit ihren Meinungen sichtbar werden, aber sie dürfen deshalb nicht alleine Meinungsmehrheitsansprüche gelten machen, ansonsten geht das demokratische Aushandeln von Wegen verloren.
Seite 4-5, Kompakt Zeitung Nr. 233