Als die Elbe nicht mehr dieselbe war Über das Hochwasser vor zehn Jahren
Michael Ronshausen
Folgt man ihren verschiedenen Quellen, kann man sie von ihrem Namen her durchaus als kleine Täuscherin bezeichnen. Sie gehört zu den großen Flüssen Europas und entwässert praktisch das komplette böhmische Becken, so wie auch große Teile des mitteldeutschen Raums. Und – ganz in ihren Anfängen – führt sie sogar ein paar Tropfen polnischen und österreichischen Wassers mit auf ihrem langen Weg zur Nordsee. In ihrer Geschichte war sie einige Male Grenzfluss, manchmal wurde sie auch nur dafür gehalten. Sie diente jahrzehntelang als chemieverseuchte Kloake, und im Laufe einiger Jahrzehnte war sie nicht viel mehr als eine vergiftete Toilettenspülung. Heute entwickelt sie sich wieder zum Naturparadies. Und würde es im Leben immer gerecht zugehen, müsste man ihren – rein rechnerischen –1245 Kilometer langen Lauf gerechterweise nicht als Elbe, sondern als Moldau bezeichnen. Dort, wo sich die beiden Flüsse vereinen, ist die rein böhmische Nachbarin die Mächtigere der beiden Schwestern. Doch schon im Mittelalter bürgerte sich ihr bis heute bestehender Name ein. Die Moldau war und bleibt nur ein Zufluss zur Elbe, macht sie aber dadurch schon weit stromaufwärts zu einem schiffbaren Gewässer und somit auch zu einer bedeutenden Wasserstraße. Bereits in vormittelalterlicher Zeit diente sie als Verkehrsweg, und noch vor wenigen Jahrzehnten war sie eine hochfrequentierte und praktisch unverzichtbare Verbindung. In den Zeiten der deutschen Teilung errichtete die damalige Bundesrepublik mit dem Elbe-Seitenkanal extra eine 115 Kilometer lange Ausweichstrecke, um zwischen dem Mittellandkanal und Hamburg nicht erst durch die DDR schwimmen zu müssen. Und nicht zufällig gibt es in Hamburg den Moldauhafen, der den Tschechen seit 1929 vertraglich den Zugang zur Nordsee und zu den Weltmeeren gewährt.
Heute hat nicht nur der Verkehr zwischen Tschechien und der Nordsee stark abgenommen, seit Jahrzehnten werden auch die deutschen Schiffe auf der Elbe immer weniger. Das erweckt einerseits konkrete bauliche Begehrlichkeiten, sorgt aber andererseits für erheblichen und durchaus auch nachvollziehbaren Protest. Die Elbe ist schon lange kein natürlicher Fluss mehr. Bereits im 19. Jahrhundert gab es umfangreiche Regulierungsarbeiten, um den Elbstrom für eine intensivere und damit wirtschaftlichere Nutzung fit zu machen. Historische Fotos zeigen vielfach ganze Perlenketten von Güterschiffen, die aneinandergereiht unterwegs sind und die durchaus auch als Indikator der industriellen Entwicklung verstanden werden können. Im späten 19. und abschnittsweise auch noch im frühen 20. Jahrhundert mechanisierte man die Elbschifffahrt schließlich sogar mit einem Kettensystem. Sogenannte Kettenschlepper konnten sich in eine auf dem Flussgrund liegende eiserne Kette einhängen und gleichzeitig mehrere Schleppkähne stromaufwärts ziehen, wodurch sich die Verlässlichkeit wie auch die Effizienz der beruflichen Schifffahrt erheblich steigern ließ. Noch heute finden sich manchmal beim Freibaggern im Strom bauliche Reste dieser längst aufgegebenen Technologie. Die Schiffe lernten gewissermaßen, sich auch mit eigenem Antrieb effizient fortzubewegen, und für lange Zeit bestimmten ganze Perlenketten aus hintereinander herfahrenden Dampfern das Bild auf dem Fluss.
Inzwischen hat sich dieses Bild gewandelt. Eisenbahn- und Lastkraftwagen stehen seit Jahrzehnten in harter Konkurrenz zum Binnenschiff und machen den Berufsschiffern das Leben schwer. Milliardenschwere Ausbau- und Neubaumaßnahmen – wie beispielsweise die im Grunde genommen völlige Neuerrichtung eines niveaufreien Wasserstraßenkreuzes zwischen Mittellandkanal und Elbe bei Magdeburg – ließen bald nach der Wende einen bereits fast 80 Jahre alten Traum wahr werden, der seinen Ansprüchen jedoch am Ende nicht gerecht wurde. Weder Mittelland-/Elbe-Havel-Kanal noch die Elbe selbst verwandelten sich nach dem Jahr 2000 in jene hochfrequentierten Verkehrswege, mit denen Eisenbahn und LKW entlastet werden sollten. Und während jede neue Landebahn und jeder neu gebaute Autobahnkilometer auch schon mal zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen kann, gab es beim Wasserstraßenkreuz nahe Magdeburg nicht den geringsten Protest.
Wirklich ins öffentliche Bewusstsein gerückt hat sich die Elbe dann aber nach der Jahrtausendwende auf ihre eigene Art. Die Menschen mussten nicht mehr zum Fluss kommen, der Fluss fand – zuletzt vor zehn Jahren – den Weg zu den Menschen. Bereits im Sommer 2002 kam es durch ungewöhnlich starke Regenfälle im Einzugsgebiet der Elbe (und an anderen Flüssen) zu erheblichen Hochwassern mit dutzenden Toten, verwüsteten Landschaften und Sachschäden im Milliardenbereich. Fachleute gehen davon aus, dass die Einflussnahme der damaligen Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) auf die Folgen der Naturkatastrophe – insbesondere an der Elbe – zu einer deutlichen und positiven Beeinflussung der Bundestagswahl vom September 2002 geführt hat. Zwar gelang es im Großen und Ganzen, der aktuellen Situation am Ende trotz aller Opfer Herr zu werden, elf Jahre später sollte sich aber he-rausstellen, dass vollmundige Versprechen von höheren Deichen, größeren Überschwemmungsflächen und riesigen Sandsackvorräten eben doch nur Versprechen waren. 2013 überschwemmten die Fluten riesige Landflächen, auch in Magdeburg standen große Bereiche der Stadt unter Wasser, die 2002 noch trocken geblieben waren. Die ab 2002 verwendete Begrifflichkeit „Jahrhunderthochwasser“ wurde bereits nach elf Jahren ad absurdum geführt. Glaubt man den Experten, ist seither zwar ein wenig, aber keinesfalls genug getan worden. Als gewiss gilt inzwischen auch, dass man einer Flutkatastrophe europäischen Ausmaßes wie im Sommer 2013 nicht schadenfrei begegnen kann und auch bauliche Anpassungen immer nur punktuelle Lösungen sein werden.
So haben beispielsweise heute, zehn Jahre nach der letzten großen Flut, die Bauarbeiten im Rahmen einer vollständigen Geländeerhöhung des Areals des MVB-Betriebshofs in Magdeburg-Rothensee noch immer keinen Abschluss gefunden. Andere Projekte in größeren Ausmaßen schlummern sogar noch in den Schubladen oder existieren nur als Idee. Erwartbar ist hingegen, dass sich die katastrophalen Hochwasser der Jahre 2002 und 2013 irgendwann wiederholen werden und dass man das Wasser selbst mit den ambitioniertesten Projekten des Hochwasserschutzes nicht aus unserem Lebensraum ausschließen kann. Wird an einer Stelle dem Wasser durch Baumaßnahmen vorsorglich der Weg abgeschnitten, verschwindet es nicht, es weicht dem Hindernis nur aus. 2002 trat Sachsen-Anhalts damaliger Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) mit einer deutlichen Warnung in die Öffentlichkeit. Lange vor Facebook und der Existenz ähnlicher Plattformen verbreiteten vom Hochwasser betroffene Bürger Falschmeldungen über Deichsprengungen und über die vorsätzliche Flutung ganzer Dörfer, eben mit dem angeblichen Ziel, den Wasserdruck auf Magdeburg zu verringern. Damit entstand angesichts der Hochwasserkatastrophe zusätzlich eine belastende Komponente des öffentlichen Unfriedens, die nicht vernachlässigt werden sollte. Das Wasser wird wieder kommen! Ob bis dahin zehn Jahre oder zehn Jahrzehnte vergehen, oder ob uns die nächste Flut schon in 14 Tagen ins Haus steht, sollte dabei völlig außer acht gelassen werden.
Seite 12-13, Kompakt Zeitung Nr. 234