Mehr Schaum um nichts
Thomas Wischnewski
Wir kennen alle die vielfachen Forderungen nach mehr: mehr Bildung, mehr Gesundheit, mehr Freizeit, mehr Fachkräfte, mehr Aufklärung! Es existiert kein Bereich, in dem nicht mehr gewollt wird. Am Ende zeigt sich paradoxerweise, dass aus mehr meist weniger wird. Leiden wir an einer „Mehr-Krankheit? Und was hat das alles mit der Vorstellung von Zeit zu tun?
Für die Gesundheit tun wir viel. Jedenfalls hat man den Eindruck. Noch nie gab es so viel Aufklärung beispielsweise in Ernährungsfragen. Die Ratgeberangebote in Medien rollen täglich auf uns zu wie Meeresbrandungswellen an Felsen. Die Lebensmittelvielfalt in Supermärkten hat eine Bandbreite erreicht, dass leicht der Überblick verloren werden kann. Doch was ist das Ergebnis? So viele Menschen mit Übergewicht wie heute gab es noch nie. Das Statistische Bundesamt erhebt den Befund: „Bereits junge Erwachsene sind häufig zu dick. Unter den 18- bis 24-Jährigen war 2019 EU-weit bereits 25 Prozent übergewichtig. Gegenüber der letzten Erhebung aus dem Jahr 2014 entsprach dies einem deutlichen Anstieg um drei Prozentpunkte (2014: 22 %). Mit zunehmendem Alter stieg der Anteil der Übergewichtigen stetig weiter. Der höchste Wert wurde mit 66 Prozent in der Altersgruppe der 65- bis 74-Jährigen erreicht.“ Während der Corona-Pandemie hat z. B. das sogenannte Homeoffice die Entwicklung durch Bewegungsmangel noch weiter verschärft. Fazit: Mehr Aufklärung und mehr mediale Veröffentlichung für eine gesunde Lebensweise führen in der Summe zu weniger gesunden Individuen. Mit der Entwicklung zu mehr übergewichtigen Menschen steigen auch die Diabeteserkrankungen an. Heute zählt man über 8 Millionen dazu, wobei die Dunkelziffer nicht berechnet werden kann. Die deutsche Diabetesgesellschaft geht von einem Anstieg auf über 12 Millionen Erkrankungen im Jahr 2040 aus. Aller Fortschritt im mehr Wissen über ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel führt bisher nur zu weniger Gesundheit. Die Zahlen der Herzkreislaufkrankheiten und die im Bereich Muskulatur- und Stützapparat sprechen dieselbe Sprache.
Bleiben wir im Gesundheitssystem. Auf Seite 8 zitiert der Kolumnist Paul F. Gaudi statistische Angaben zur Krankenhauslandschaft: Im Jahr 2000 gab es in Deutschland noch 2.292 Krankenhäuser. 2020 waren es nur noch 1.903. Wenn die nach Plänen der Bundesregierung um weitere 20 Prozent verringert werden, bleiben in Deutschland noch etwa 1.500 übrig. Doch warum erscheint es so, dass sich die Gesundheitsversorgung radikal verschlechtert? Im Jahr 2000 arbeiteten insgesamt rund 4,02 Millionen Menschen im deutschen Gesundheitswesen. Zehn Jahre später waren es 4,88 Millionen Beschäftigte, 2020 etwa eine Million mehr und 2021 wurde erstmals die 6-Millionen-Grenze überschritten. Auch bei den Ausgaben für den Gesundheitsbereich ist nur Wachstum zu sehen. Im Jahr 2010 betrugen die Ausgaben 291,1 Milliarden Euro. Innerhalb von zehn Jahren kletterten die Ausgaben auf 441 Mrd. Euro. Im Corona-Jahr 2021 waren es 474 Mrd. Euro. Überall ist mehr mit weniger Effekt. Kein Wunder, dass die Rufe nach mehr nicht verhallen. Doch was ist, wenn noch mehr eingesetzt wird und sich die Ergebnisse letztlich weiter verschlechtern?
Natürlich hat die Demografie mit einer älter werdenden Bevölkerung, die häufiger medizinische Hilfe in Anspruch nehmen muss einen Einfluss. Gleichzeitig wächst die deutsche Bevölkerung durch Migration und Flucht. Auch diese Menschen versorgt das System und manche arbeiten auch als Fachkräfte im Gesundheitsbereich. Selbst im Pflegebereich gab es über die vergangenen Jahre überall Zuwachs. In 20 Jahren, von 1999 bis 2019, haben sich die Pflegebedürftigen von zwei Millionen auf vier verdoppelt. Entsprechend waren auch mehr Leute in der Pflege beschäftigt. Trotzdem reicht es vorn und hinten nicht. Auch da schlägt natürlich die Demografie zu.
Die Forderungen nach mehr Bildung, Klagen über Lehrermangel reißen Tag für Tag nicht mehr ab. Im Schuljahr 2014/2015 waren in Deutschland 752.358 Pädagogen beschäftigt. Bis 2020/2021 stiegt die Zahl auf knapp 800.000 an. Tendenz weiter steigend. Nur kommen unter dem Strich weniger Bildung und weniger Unterricht heraus. Den Niedergang belegen uns eindrucksvoll die jährlichen Erhebungen aus der Pisa-Studie und die Befunde aus Unternehmen und Hochschulen über das Wissen von Schulabsolventen. Dazu gleich noch einen Blick auf die Personalzahlen bei der Deutschen Bahn AG: „Im Jahr 2022 belief sich die Beschäftigtenzahl der Deutschen Bahn AG auf rund 324.100 Mitarbeiter. Dies sind etwa 400 mehr als im Vorjahr. Das bundeseigene Verkehrs- und Logistikunternehmen Deutsche Bahn AG wurde 1994 gegründet. Infolge der Bahnreform, die 1994 startete, baute die Deutsche Bahn massiv Personal ab. In den letzten Jahren steigt die Zahl der Angestellten jedoch tendenziell wieder und ist deutlich höher als im Jahr 2005, als nur 216.400 Mitarbeiter bei der Deutschen Bahn beschäftigt waren.“ So kann man es im Portal „Statista“ nachlesen. Ergebnis: weniger Pünktlichkeit, weniger Zuganschlüsse, weniger Verbindungsservice.
Inzwischen diskutiert man im Land die Vier-Tage-woche oder die Möglichkeit, nur noch 25 Stunden pro Woche zu arbeiten, natürlich möglichst bei vollem Lohnausgleich. Die Menschen im Land sehnen sich nach mehr Freizeit, Arbeitsausgleich und mehr Selbstverwirklichung. Die Arbeit wird offenbar zunehmend als Belastung empfunden. Die Statistik zeigt über alle Tätigkeitsfelder hinweg seit vielen Jahrzehnten auf sinkende Jahresarbeitszeiten. Die Jahresarbeitsstunden lagen in Deutschland 1970 im Durchschnitt noch bei rund 2.400 Stunden. Die durchschnittliche Jahresarbeitszeit von Vollzeiterwerbstätigen in Deutschland belief sich im vergangenen Jahr auf rund 1.588,2 Stunden. Rechnet man die Teilzeiterwerbstätigen dazu, lautet die Durchschnittszahl 1.383 Stunden pro Jahr. Heute werden also rund 1.000 Arbeitsstunden im Jahr weniger geleistet als noch vor über 50 Jahren. Die Freizeitpotenziale haben also insgesamt zugenommen. Tourismus und die Nutzung anderer Freizeitbetätigungen bestätigen das. Doch gleichzeitig steigt kontinuierlich die Zahl der psychischen Beeinträchtigungen in Deutschland. Also das Mehr an Freizeit führt zu weniger gesunden psychischen Zuständen. „Die Gesundheitsberichterstattung der Krankenkassen zeigt, dass Krankschreibungen aufgrund psychischer Diagnosen vor allem seit dem Jahr 2006 kontinuierlich ansteigen. Im Rahmen der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) hat die Zahl der Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen (AU-Fälle) bis 2021 im Vergleich zum Jahr 2011 um mehr als 18 Prozent und die Anzahl der Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage) um über 53 Prozent zugenommen. Der Einbruch bei der Fallzahl nach dem Höchstwert von 2019 lässt sich vermutlich mit dem Verhalten während der Corona-Pandemie erklären.“ Das ist die Analyse des Portals „Statista“.
Weiter zeigt sich, dass von solchen Beeinträchtigungen Frauen häufiger betroffen sind als Männer. In einem Jahr kamen aufgrund von psychischen Störungen rund 3.650 AU-Tage auf 1.000 Frauen und 2.325 AU-Tage auf 1.000 Männer (Erhebung der BKK). Vor allem in der Gruppe der Dreißig- bis Mitte Vierzigjährigen kommen besonders viele Arbeitsausfälle vor. Im Jahr 2022 belief sich der Anteil der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund von psychischen Erkrankungen bei den 40- bis 44-Jährigen auf rund 21,3 Prozent. Von den nackten Zahlen her leistet die Generation der Dreißig- bis Mitte Vierzigjährigen nicht mehr so viele Stunden wie deren Elterngeneration.
Eine weitere große Debatte wird seit Jahren über das Thema Zuwanderung mit Fachkräftegewinnung geführt. Von Jahr zu Jahr steigt die deutsche Bevölkerungsanzahl. Laut Statistischem Bundesamt (Destatis) lebten zum Jahresende 2022 gut 84,4 Millionen Personen in Deutschland, so viel wie noch nie in der Geschichte. Diese Entwicklung sei auf einen deutlichen Anstieg der Nettozuwanderung auf 1.455.000 zurückzuführen (2021: 329.000), vor allem bedingt durch die Fluchtbewegungen aus der Ukraine. Und dass, obwohl gleichzeitig im Jahr 2022 wie in den Vorjahren mehr Menschen gestorben als geboren wurden.
Wagen wir mal ein Fazit: Mehr Zuwanderung leistet – jedenfalls aktuell – noch keinen signifikanten Beitrag zum weiter ansteigenden Bedarf an Beschäftigten. Das mag sich vielleicht im Lauf der weiteren Jahre ändern. Doch muss eines deutlich gesagt werden: Den einst beschworenen Fleiß der Deutschen scheint es so nicht mehr zu geben. Vor allem in Tätigkeitsfeldern, in denen die Arbeitsbedingungen mit Schichtarbeit oder physischen Beschwernissen einhergehen, wollen weniger Deutsche arbeiten. Akademische Karrierewege, Bürotätigkeiten, Freizeit- und Kulturarbeit sind beliebte deutsche Jobwünsche. Das führt dazu, dass eben die Arbeit, die vor allem mit körperlichem Einsatz einhergeht, von anderen Ethnien übernommen werden soll oder übernommen wird. Auf fast allen Baustellen kann man sich dazu ein Bild machen.
Man könnte schlussfolgern, dass die Lebensentwürfe der Deutschen quasi auf dem Rücken anderer Nationalitäten ausgetragen werden. Eine andere Zahl verdeutlicht dies ebenso eindrucksvoll. In derselben Zeit, in der wir hierzulande über Jahrzehnte über mehr Freizeit verfügen – also weniger Arbeitsstunden leisten – stieg die Jahresarbeitszeit in Asien um fast dieselbe Stundenzahl an. Was wir also im Mehr an Freizeitmöglichkeiten oder Müßiggang annehmen, führt nur dazu, dass die Arbeit anderswo auf der Welt geleistet wird. Das könnte im Kern einer modernen Form von Kolonialismus gleichkommen. Oder es ist eben eine Art Dekadenz des sogenannten Abendlandes.
Noch ein Paradox zum Schluss. Überall verfolgen wir – zumindest in vielen Forderungen – die Einsparung von Energie und Emissionen, vor allem die von Kohlendioxid. Dennoch steigt der Energiebedarf. Im Jahr 2021 hat die Industrie in Deutschland 3.918 Petajoule Energie verbraucht. Das waren 4,6 Prozent mehr als im ersten Coronajahr 2020 und 2,6 Prozent mehr als 2019. Bei den privaten Haushalten gibt es zwar einen geringen Rückgang, der jedoch vorrangig auf die milden Winter zurückzuführen ist. Der Stromverbrauch wird durch Freizeitnutzungsverhalten und Elektromobilität künftig eher angekurbelt. Beim Strom dreht sich ein Weniger-Wollen in einen Mehr-Brauch um. Ein Mehr, dass wir überall fordern, ist oft mit weniger Ergebnissen verbunden. Das permanente Anschwellen virtueller Debatten darüber, wie man mehr erreichen kann, führt jedenfalls zu keinem realen Ergebnis. Wirklichkeit und mediale Diskussion entfernen sich voneinander. Das ist ein Symptom deutscher „Mehr-Krankheit“: Mehr Schaum um Nichts.
Seite 16, Kompakt Zeitung Nr. 235