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Die steinerne Grenze im Dom
Michael Ronshausen
Erzählungen aus der gotischen Kathedrale
Streng genommen könnte sie aus einer Kordel bestehen – die Chorschranke. Und selbst in Deutschlands berühmtester Vorzeigekathedrale am Rhein gibt es kaum mehr, um den Bereich der Laienkirche gegen den Raum der Geistlichkeit abzugrenzen. Man kann den Kölnern in diesem Zusammenhang durchaus eine gewisse Offenheit zugestehen, denn über viele Jahrhunderte hinweg und in unzähligen Kirchen jeder Größenordnung wurde diese Abgrenzung oft unter hohem baulichem Aufwand in Stein ausgeführt. Es entstanden die als Lettner bezeichneten, mit Kunstwerken geschmückten Einbauten, die insbesondere in den gotischen Kathedralen den Weg durch das Kirchenschiff abgrenzten und den wichtigsten Ort innerhalb der Kirche, den Chorraum, den Blicken der Gläubigen entzog.
So ist es spätestens seit 1451 auch im Magdeburger Dom. Ab 1445 ließ der gerade neu ins Amt gelangte Erzbischof Friedrich von Beichlingen den neuen Lettner errichten. Man kann jedoch davon ausgehen, dass es seit der Domweihe 1363 ein Vorgängerbauwerk gegeben hat, von dem heute aber nichts mehr bekannt ist. Vielleicht lässt sich am Standort des Lettners der Grund für den damaligen Neubau ablesen. Immerhin grenzt er nicht nur den eigentlichen Hohen Chor nach Westen hin ab, seine Hauptwand ist mehrere Meter nach Westen hin verschoben. Sie schlägt nicht weniger als die Hälfte der Vierung dem Chor zu und vergrößert diesen damit erheblich. Zusammenhängen kann dies mit einer Vergrößerung des Domkapitels, auch die hauptberuflich Betenden brauchen für die Ausübung ihrer Funktion Platz.
Immerhin waren in den ersten Jahrzehnten des Dombaus, insbesondere in den östlichen und damit ältesten Teilen des Doms, noch bescheidenere Maße zur Anwendung gekommen als später am wesentlich weitläufigeren Langhaus. Der Neubau des spätgotischen Lettners und die damit einhergehende Vergrößerung des Chores kann also auf einen höheren Platzbedarf für die gottesdienstlichen Handlungen zurückgeführt werden. Offen bleibt die Frage, welchem Zweck diese repräsentative Grenze eigentlich diente. Im Falle einer erzbischöflichen Kathedrale wie dem Dom muss man wissen, dass der Hochchor das geistige Zentrum der Körperschaft darstellte, nicht nur für das Erzbistum selbst, sondern auch für die dazugehörigen Suffraganbistümer, deren Wappen man einst am Lettner, ähnlich wie an einer Schranke, befestigte. Diesen zentralen Ort der besonderen Weihe, in dem auch die liturgischen Gegenstände aus dem Domschatz Anwendung fanden und aufbewahrt wurden, von der Öffentlichkeit abzuschirmen, hatte also auch einen praktischen Grund.
Möglicherweise bereits nach der Reformation, zweifellos jedoch nach der Auflösung des Domkapitels, erledigte sich der ursprüngliche Sinn des Lettners als Trennungsbau zwischen der Geistlichkeit und der Laienschaft. Wie in vielen anderen Kirchen blieb er im Magdeburger Dom als bedeutendes sakrales Kunstwerk erhalten, auch wenn seine beiden, inzwischen erneut vergoldeten Gittertüren heute meist offenstehen. Und auch einem praktischen Nutzen dient er heute wieder: Auf seiner durch ein kleines Treppenhaus erreichbaren Galerie finden zum jährlichen Christfest die fünf Weihnachtsbäume ihren Platz. Der Lettner selbst wurde vor wenigen Jahren gereinigt und umfassend saniert – bis heute prägt er aus verschiedenen Perspektiven die Innenansichten des Doms. Weitere Informationen zum Thema finden sich im Buch: „Der mittelalterliche Lettner im Dom zu Magdeburg“ von Michael Sußmann (ISBN: 978-3-89923-421-3).
Seite 10, Kompakt Zeitung Nr. 235