„Ich brauche das Gefühl, etwas bewegen zu können”
Tina Heinz
Michael Kempchen hat das Puppentheater Magdeburg in den vergangenen 33 Jahren geformt und geprägt. Dank seiner Hingabe blieb eines der letzten eigenständigen Ensemblepuppentheater Deutschlands nach der Wende erhalten. Und unter seiner Ägide wuchs aus einer kleinen Theatertruppe eine Institution, die inzwischen internationales Renommee genießt. Nun, ein Jahr nachdem sich der Künstlerische Leiter des Hauses, Frank Bernhardt, in den Ruhestand verabschiedet hat, ist es auch für den Intendanten an der Zeit, den Schlussstrich zu ziehen. Ein Gespräch mit Michael Kempchen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Herr Kempchen, mit welchen Gefühlen blicken Sie Ihrem letzten offiziellen Arbeitstag Ende August entgegen?
Michael Kempchen: Manchmal stelle ich mir vor, wie ich am 1. September aufwache und eine große Last von Verantwortung ist von den Schultern genommen – wie großartig! Das muss ein schönes Gefühl sein, denn als Intendant kann man nie abschalten. Selbst im Urlaub – und den verbrachten wir in den vergangenen Jahren nie in weiter Ferne – hatte ich immer das Handy parat. Man kann nie wissen, was passiert. Gibt es Havarien oder organisatorische Probleme, die Spielplan oder gar das Haus gefährden? Ich möchte nicht den Teufel an die Wand malen, aber man muss auch solche Eventualitäten im Hinterkopf haben. Und das wird ab September nicht mehr in meiner Verantwortung liegen. Dann sind andere an der Reihe …
Das Gefühl der Vorfreude überwiegt also?
Es gibt wie immer ein lachendes und ein weinendes Auge. Alles, was hier aufgebaut wurde, was unter meiner Intendanz entstanden ist, ist wie ein eigenes Kind. Dieses Kind muss ich nun gehen lassen und das wird auch etwas weh tun. Wenn ich an meinem letzten Arbeitstag hier rausgehe und den Schlüssel abgebe – spätestens zu diesem Zeitpunkt wird es sehr emotional werden.
Wie finden Sie dann die nötige Ablenkung?
Mit einem Haus, einem Grundstück und zwei Hunden gibt es immer genug zu tun. Vor den Aufgaben zu Hause kann ich mich dann nicht mehr drücken. Und wir gönnen uns sicher auch mal einen längeren Urlaub – der letzte größere war vor 12, 13 Jahren. Aber eigentlich mache ich mir keine Sorgen, dass mir langweilig wird. Es gibt schließlich zahlreiche Projekte, in die man sich einbringen könnte. Es geht nicht, gar nichts zu machen. Ich brauche das Gefühl, etwas bewegen zu können.
Gibt es bestimmte Projekte, die Sie im Blick haben und mittels derer Sie etwas bewegen möchten?
Ich möchte nicht so viel verraten. Aber natürlich liegt mir die Kultur am Herzen, auch wenn ich Wirtschaft studiert habe und es ein großartiger Zufall war, dass ich Anfang der 1990er Jahre mein Studium mit meinem Interesse für Kunst verbinden konnte – die bloße Zahlenspielerei hätte mich nicht glücklich gemacht. Kultur war schon immer meine Leidenschaft und das wird sie auch bleiben. Und ich denke, Magdeburg würde mehr internationale Kultur gut zu Gesicht stehen, damit die Stadt richtig lebt – nicht nur im Sommer, wenn so viele Höhepunkte anstehen. Man könnte beispielsweise Projekte entwickeln, die auf einzelne Stadtteile zugeschnitten sind und die Bewohner direkt in ihrem Kiez erreichen.
Wie steht es um das Quartier p. – ein Projekt, das Sie mit angestoßen haben, dessen Vollendung Sie jedoch nicht mehr als Intendant erleben werden?
Was das Europäische Zentrum für Puppenspielkunst betrifft, sind wir auf gutem Weg, eine internationale Begegnungsplattform samt Ausbildungsort, Spielstätte, Figurenausstellung und internationalem Figurentheaterfestival zu verwirklichen. Auch wenn es schwerfällt, werde ich mich komplett rausnehmen. Die neue Intendantin soll die Chance haben – wie am Puppentheater auch – ihre eigene Handschrift zu ziehen. Wenn es jedoch erwünscht sein sollte, kann ich mir vorstellen, an der einen oder anderen Umsetzung unterstützend mitzuwirken.
Auch hier überwiegt die Trauer über den Ruhestand also nicht …
Wenn ich das große Ganze sehe, bin ich dankbar, dass ich die Geschicke des Puppentheaters und all der damit verbundenen Projekte so lange lenken durfte, ob es das Quartier p., die Figurenspielsammlung in der Villa p. oder das Internationale Figurentheaterfestival betrifft, das auch ein wichtiges Anliegen von Frank Bernhardt war. Es ist ein Privileg, all die Menschen – vor Ort und international – kennengelernt zu haben. Auch wenn die Zeiten jetzt nicht so rosig sind, bin ich zuversichtlich, dass sich das Puppentheater auf dem richtigen Weg befindet. Wir dürfen nur nicht vergessen, dass wir kein Reparaturbetrieb für verfehlte gesellschaftspolitische Entwicklungen sind. So halte ich es für schwierig, wenn etwa Bundesstiftungen oder andere Förderprogramme auflegen, die politischen Konzepten oder Programmen entgegenkommen. Bei der immerwährenden Suche von Künstlern nach finanzieller Unterstützung, besteht die Gefahr, künstlerische Freiheit zu beeinflussen. Theater muss Visionen zum Leuchten bringen, dass Unmögliche denken.
Sind die Zeiten denn weniger rosig als zu Beginn Ihrer Karriere am Puppentheater?
Die Jahre nach der Wende waren auf andere Weise prekär. Als ich 1990 gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könnte, die Intendanten-Stelle zu übernehmen, habe ich nicht gezögert – es ging um nichts Geringeres, als um das Überleben dieses Hauses. Genauer gesagt, stand die Frage im Raum, was die Stadt Magdeburg mit dem Puppentheater machen wolle. Und all die Berater, die aus den alten Bundesländern kamen, um ihre Expertise an uns weiterzugeben, bescheinigten unserem Haus nur sehr geringe Überlebenschancen. Ihr Rat war, den Betrieb auf Sparflamme herunterzufahren – vier oder fünf Personen sollten reichen, um beispielsweise in Kindergärten oder bei Veranstaltungen hin und wieder mit einer Art ‚Kasperletheater‘ aufzutreten.
„Es ist schwer, an die Spitze zu kommen …”
Das konnten Sie nicht auf sich sitzen lassen …
Auf keinen Fall! Jetzt wollte ich erst recht das Gegenteil beweisen. Zum Glück wurde Rüdiger Koch 1995 vom Stadtrat zum Kulturbeigeordneten gewählt. Er hat das Potenzial dieses Hauses erkannt. Dank seiner Hilfe und der des Stadtrats konnten wir hier vieles entwickeln. Überhaupt ist es nicht selbstverständlich, welche Unterstützung die Puppentheater in Sachsen-Anhalt erfahren haben. Das gilt nicht nur für Magdeburg, sondern auch für Halle. Beide Ensemblepuppentheater gehören zu den renommiertesten in Deutschland. … Doch eine weitere Person möchte ich noch nennen, die in dieser Zeit eine maßgebliche Rolle gespielt hat: Elisabeth Graul – Schriftstellerin, Dissidentin, Puppenspielerin und auch Regisseurin am Puppentheater Magdeburg in den 1960er und 1970er Jahren. Sie hat nach der Wende einen offenen Brief zur Abwicklung des Puppentheaters verfasst und vor allem ein Satz ist mir in Erinnerung geblieben: ‚Dafür sind wir nicht auf die Straße gegangen‘. Diese Zeit hat mich stark geprägt. Die Vorstellung, dass das Puppentheater mit einem Federstrich wegrationalisiert werden könnte, war mein Antrieb.
Wie äußerte sich das in Ihren Handlungen, in Ihren Entscheidungen?
Mein Ziel war es, größer zu werden – das Haus sollte nicht nur erhalten werden, es sollte wachsen, an Bedeutung gewinnen. Denn was groß und wichtig genug ist, wird nicht einfach gestrichen. Und mit der Vielfalt, die wir zu bieten haben, ist uns das auch gelungen. Neben den Inszenierungen für Erwachsene habe ich es immer als meinen wichtigsten Auftrag gesehen, das Repertoire für Kinder in den Vordergrund zu rücken. Zudem haben wir mit der Jugendkunstschule eine großartige Verbindung geschaffen, um jungen Menschen eine Art kreativen Abenteuerspielplatz bieten zu können. Ein weiterer Baustein, um das Puppentheater nach vorn zu bringen, ist unsere Figurenspielsammlung in der Villa p., die 2012 eröffnet wurde und auf mehr als 650 Quadratmetern die Entwicklung des Figurenspiels zeigt. Aber auch unsere Veranstaltungen außerhalb des regulären Spielplans haben ein enormes Gewicht – vom Hofspektakel bis hin zum Blickwechsel. Vor allem letzteres, das internationale Figurentheaterfestival, hat den Weg für das internationale Parkett bereitet, auf dem wir uns inzwischen bewegen. Es ist zudem der Grundstein für die Entwicklung des Quartiers p. – das länderübergreifende Denken, ein europäisches Zentrum für dieses Genre samt Studienmöglichkeiten zu schaffen, hat damit begonnen.
Sie haben zahlreiche Höhepunkte gestaltet und miterlebt. Doch nun reichen Sie das Zepter weiter. Was geben Sie der Institution, die Sie 33 Jahre geleitet haben, mit auf den Weg?
Ich bin sehr stolz auf das, was wir in dieser Zeit gemeinsam erreicht haben. Es ist schwer, an die Spitze zu kommen, aber es ist noch schwerer, an der Spitze zu bleiben.
Seite 4-5, Kompakt Zeitung Nr. 235