Die Kicker und der Oertel-Klon
Rudi Bartlitz
Künstliche Intelligenz macht auch vor dem Sport immer weniger halt. Beispiele aus diesen Tagen.

Die Horror-Vision des Fußballs der Zukunft könnte so lauten: Trainer, Manager und Scouts haben ausgedient. Weg mit ihnen! Die perfekte Startelf, die beste Taktik, vielversprechende Einwechslungen (und im Vorfeld die besten Transfers sowieso), all das spuckt ein Mega-Superrechner aus. Künstliche Intelligenz (KI) macht’s möglich.
Wer jetzt das vorliegende Blatt mild lächelnd zur Seite schiebt oder mitleidig über derart viel Ahnungslosigkeit seufzt, der sollte sich, nur mal übungshalber, noch einmal ein Foto vor Augen führen, das nach einem der jüngsten Auftritte der deutschen Nationalmannschaft durch die Medien geisterte. Da saßen neben Cheftrainer Hansi Flick brav sage und schreibe vier Co-Trainer – und alle schien das unmittelbare Geschehen auf dem Rasen wenig zu tangieren. Übertrieben gesagt. Ein Eindruck, der sich dem aufmerksamen Zuschauer schon während der Live-Übertragung aufgedrängt hatte. Die Assistenten-Augen richteten sich gebannt auf Screens, Laptops, iPads und anderen (geheimnisvollen) Hightech. Als ob sich dort, und nicht beim Blick aufs Spielfeld, ablesen ließe, wie es um das Schicksal der Truppe steht. Die an diesem Tag (es war die Ukraine-Partie) wahrlich Impulse von außen nötig gehabt hätte. Als ob die vier ihrem Chef zurufen wollten: Wir sehen was, was du nicht siehst. Als ob tatsächlich mit Bildschirmdaten, und nicht etwa im Kopf des Bundestrainers (wer auch immer es künftig sein mag), die entscheidenden Fragen zu beantworten seien.
Aber nicht nur im Bereich bei der Spielanalyse oder beim Scouting wird im Fußball vermehrt auf die KI gesetzt. Auch während der Spiele kommt diese Technik zum Einsatz. Manches ist (fast) schon zur Normalität geworden. Wie die Genauigkeit der Entscheidungen der Schiedsrichter. Sie kann durch die KI unterstützt werden. Mithilfe von Videobeweisen können die Unparteiischen im Zweifelsfall feststellen, ob sich ein Spieler während der Aktion im Abseits befand oder ob das Tor tatsächlich erzielt wurde. Da es sich in solchen Situationen teilweise nur um Millimeter handelt, die entscheidend sind, lassen sich diese mit dem menschlichen Auge häufig nicht mit hundertprozentiger Genauigkeit erkennen.
Ein anderes Beispiel aus diesen Tagen, einmal nicht vom Fußball. Bei den Europaspielen in Krakau wird bei den Leichtathletik-Wettkämpfen der Kommentar in den ausgestrahlten Liveblogs zum Teil durch eine KI generiert. Dabei soll, geht aus einer Mitteilung der Europäischen Rundfunkunion (EBU) hervor, die Stimme der britischen Kommentatorin Hannah French durch den Einsatz der KI „geklont“ werden. Kleine Anregung am Rande: Vielleicht könnte ja schon beim nächsten olympischen Marathon die Stimme von Heinz-Florian Oertel geklont werden. Von wegen: „Liebe junge Väter, haben sie Mut und nennen sie ihren Sohn doch Waldemar …“ Und das käme dann nicht einmal, wie anno 1980, aus Kreml-Nähe, sondern aus Paris.
Spaß beiseite. Sieht der Profifußball in nicht allzu ferner Zukunft wirklich so aus, wie oben beschrieben? „Ich bin mir sicher, dass es nicht so weit kommt – und als Fußballfan hoffe ich das auch“, sagt Tim Schröder. Als Produktentwickler der Online-Plattform Plaier, die mittels KI das Spielerscouting revolutionieren will, betont Schröder aber auch: „Die Zukunft lässt sich nicht aufhalten.“ Und die Zukunft wird auch im Sport verstärkt durch KI bestimmt werden. „Über den Monitor flimmern Daten und Grafiken von Profikickern“, heißt es in einem „Spiegel“-Report über Plaier. „Ein Streudiagramm verrät, ob ein Spieler genug Talent für die Bundesliga hat oder doch nur für Liga zwei. Über dem Diagramm stehen zwei Zahlen: ein ,Score‘, der besagt, wie gut der Spieler im weltweiten Vergleich ist, und die Summe, die ein Verein für ihn als Ablöse überweisen sollte.“ Die Zahlen – und das soll das Revolutionäre an ihnen sein – sind eben nicht von Trainern oder Scouts erstellt worden, sondern von künstlicher Intelligenz. Sie soll es auch sein, die dem bisherigen oft unwürdigen Gefeilsche und Gescharre um Wechselsummen eine möglichst objektive Grundlage verschafft. Und wir, wo bleiben wir?, glaubt man die Berater und Manager schon aus dem Off rufen zu hören.
„Das wird auch in Europa, in Deutschland kommen – und die frühen Nutzer werden einen Vorteil haben“, sagte Schröder der Deutschen Presse-Agentur. Sorgen, dass die Hochtechnologie den Kern des Sportwettkampfs negativ beeinflussen und Menschen in verantwortlichen Positionen überflüssig machen könnte, müsse keiner haben. Glaubt er zumindest. „Menschen brauchen andere Menschen als Bezugspartner“, meint Schröder, „die Technik ist nur ein Hilfsmittel”. Und als solches eingesetzt könnte KI den Sport „qualitativ besser machen”.
Ähnlich sieht es das Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT) in Leipzig, wo KI inzwischen vor allem in der Biomechanik eingesetzt wird. „KI ist in unserem Bereich kein Risiko, sondern die Chance, in kürzerer Zeit mehr Daten zu generieren“, erklärt Björn Mäurer, wissenschaftlicher IAT-Mitarbeiter Sportinformatik. Im IAT wird der Bewegungsablauf des Athleten an der Skisprungschanze oder im Diskusring gefilmt, die Aufnahmen anschließend mit einer Software ausgewertet und der Sportler mit KI-gestützten Erfassungssystemen begleitet. Im internationalen Vergleich stehe man diesbezüglich „gut da”, meinte Mäurer, „aber China dürfte weiter sein“. Gottseidank scheint die neue Technik bei den chinesischen Skispringern beispielsweise noch nicht so recht anzuschlagen. Auf jeden Fall weiter sind die USA. In den Staaten gehört die Verwendung einer künstlichen Intelligenz im Bereich des Sports bereits zum Alltag. Speziell im Bereich des American Football oder Baseball werden die Vorzüge, die diese Technik mit sich bringt, genutzt.
Der Nutzen von Methoden der KI im Sport ist unbestritten, pflichtet auch das Bundesinstitut für Sportwissenschaft in Bonn bei. Gleichzeitig warnen die Wissenschaftler davor, dass „bei der Umsetzung in die Praxis gravierende Probleme auftreten, was den Zugang zu Ressourcen, die Verfügbarkeit von Experten und den Umgang mit den Methoden und Daten betrifft.“ Die Ursache für die, verglichen mit anderen Anwendungsgebieten, langsame An- bzw. Übernahme von Methoden der KI in den Spitzensport ist nach ihrer Hypothese „auf mehrere Mismatches zwischen dem Anwendungsfeld und den KI-Methoden zurückzuführen“.
Parallel dazu, sagen die Institutsleute, komme es ebenso auf eine solide Evaluierung der Ergebnisse an, „und durch die (Teil-) Automatisierung müssen beispielsweise im Falle der Trainingssteuerung mögliche Verletzungsrisiken beachtet werden. Dies bedeutet, dass eine vollständige KI im Spitzensport zwar das höchste Potenzial besitzt, aber der durch das gleichzeitig erhöhte Risiko bedingte verlängerte Zeithorizont bedacht werden muss.“ Eine Entwarnung vor dem wissenschaftlichen Teufelszeug klingt zwar anders, aber, nun ja, ein Zeitgewinn für althergebrachte Methoden erscheint möglich.
Seite 30, Kompakt Zeitung Nr. 235