Meter 55: Mehr Schein als Sein?
Michael Ronshausen
Erzählungen aus der gotischen Kathedrale
Der Magdeburger Dom ist ein besonderes Original, worüber bereits in mehr als 50 Beiträgen innerhalb dieser Serie ausführlich berichtet wurde. In vielen Situationen ließen die Auftraggeber sowie die handwerklichen und künstlerischen Erbauer der Kathedrale nichts „anbrennen“, wenn es um die hochwertige und repräsentative Ausstattung des gotischen Neubaus ging. Und natürlich war der Dom teuer. Seine auf insgesamt 311 Jahre verteilten Bauphasen, die zusammengerechnet nicht mehr als 130, höchstens 140 Baujahre betragen haben, sind in ihren Unterbrechungen oft durch Geldmangel begründet. Allein zwischen dem Jahr der Domweihe 1363 und dem Jahr der Wiederaufnahme der Bauarbeiten an den Westtürmen 1477, von denen etwa 60 Prozent der Baumasse fehlte, wurde 114 Jahre lang kein Handschlag verrichtet. In dieser Zeit war der Dom in Betrieb, eben geweiht, und sah in seinem Kirchenraum so aus, wie wir ihn heute kennen.
Sein äußeres Abbild wirkte hingegen genauso unfertig wie die Ansicht des Kölner Doms, wo es sogar mehr als 300 Jahre länger brauchte, bis die Bauarbeiter wieder zum Werkzeug greifen konnten. In beiden Fällen war nicht nur das Interesse an den Riesenbauten erlahmt, beiden Erzbistümern war das Geld ausgegangen. Kein Wunder bei der Nutzung des kostenintensivsten Werkstoffs – Stein. Steht man heute im Langhaus, präsentiert sich der Dom als hochwertig hergestelltes architektonisches Wunderwerk. Er besteht aus kunstvoll behauenem Sandstein. Geld hat hier offenbar keine Rolle gespielt. Und tatsächlich ist der Dom in großen Bereichen aus massiven Sandsteinblöcken zusammengefügt worden, universell gilt dieses Prinzip allerdings nicht.
So bestehen beispielsweise die Oberflächen der sogenannten Zwickel über der Langhausarkade nicht aus massiven Steinquadern, wie man bei der Betrachtung denken könnte, sondern aus Putz. Noch im feuchten Material wurden fugenartige Linien hineingekratzt, die quaderartigen Felder wurden unterschiedlich schraffiert und mit leicht voneinander abweichenden Farben versehen. Dieser Aufwand vermittelte immer noch ein glaubhaftes Bild, blieb aber erheblich preiswerter als die Verwendung massiver Sandsteine. Für die eigentlichen Mauern kam hingegen viel billigerer Bruchstein zum Einsatz, der sich nicht nur leichter beschaffen ließ, sondern den man auch nicht bearbeiten musste und der aufgrund seines Vorhandenseins durch die vormalige Brandruine sowieso verfügbar war. Angewandt wurde dieses Prinzip nicht nur im Langhaus. Auch in den Westtürmen, die allerdings größtenteils mit hochwertigem Material aufgemauert wurden, kam es teilweise zum Einsatz. Hier verzichtete man sogar auf den Trick mit der Verblendung aus Putz. Zuletzt zu sehen war der „Trick“ im Dom in den 1980er und frühen 1990er Jahren. In den seit 1363 vergangenen Jahrhunderten hatte der Putz gelitten und musste vollständig erneuert werden, was die Handwerker aus der späten DDR-Zeit problemlos bewältigen konnten.
Seite 9, Kompakt Zeitung Nr. 237