Krise oder Aufbruch in die zweite Lebenshälfte?

Thomas Wischnewski

Ein kritischer Blick auf die Symptomatik innerer Krisenzustände.

Midlife-Crisis? Was ist das eigentlich? Wird jeder von diesem Phänomen ereilt oder ist das – wie oft behauptet – eher so ein Männerding? Zunächst steckt in der Bezeichnung viel Interpretation. Es soll ein Zustand beschrieben werden, der sich aufgrund seiner auftretenden Symptomatik von anderen Lebensphasen abgrenzen lässt. Der Begriff Midlife-Crisis beschreibt meist ein wenig belächelnd den Lebensabschnitt von Menschen, in der sie unzufrieden und unsicher werden. Wie der Name schon verrät, tritt das Krisengefühl häufig im mittleren Lebensabschnitt zwischen 35 und 55 auf.

 

Man kann den Abschnitt auch mit dem Übergang beschreiben, wenn der Erfahrungshorizont größer wird und der Erwartungshorizont kleiner. Oft gehen damit Brüche einher. Eine Partnerschaft zerfällt oder man empfindet sie als weniger inspirierend. Möglicherweise sind die Kinder aus dem Haus und es entstehen neue Freiräume, für die Inhalte gesucht werden. Aber auch die Karriere kann einen Knick erhalten und es müssen neue berufliche Herausforderungen gesucht werden. Die äußeren Bedingungen, die mit einem Krisengefühl in der Lebensmitte verknüpft sein können, sind vielfältig. Am Ende bestimmt jedoch die Subjektivität, der Stand der Persönlichkeitsentwicklung viel mehr darüber, wie negativ diese Phase bewusst erlebt wird.

 

Wer auch vorher schon dazu neigte, ein Glas eher halbleer zu begreifen, wird möglicherweise am Scheidepunkt des Lebens, bei dem sich verdeutlicht, dass die Vergangenheit länger und die Zukunft kürzer wird, eher eine düstere Sicht zum eigenen Sein entwickeln. Nach außen macht sich so ein Zustand an teils aktionistischer Lebensveränderung fest. Manche stürzen sich in ein neues Hobby oder ein bestehendes wird fanatisch intensiviert, es können Entdeckungspotenziale und Survival-Sehnsüchte entstehen. Partnerschaften werden infrage gestellt oder der sogenannte Sinn des Lebens steht auf dem Prüfstand. Das kann es doch noch nicht gewesen sein – so lautet ein Satz, der gern mit einer Lebenskrise verbunden wird.

 

Doch die sogenannte Midlife-Crisis ist weniger ein unbekannter Zustand als angenommen. Krisen sind lebenslange Begleiter. Nur geben wir ihnen oft neue Namen, um nicht permanent mit denselben Problemen konfrontiert zu sein. Blicken wir auf die jüngere Generation, hört man oft die Klage, dass die Möglichkeiten zur Lebensgestaltung derart zugenommen hätten, dass man im Meer der Angebote zu ertrinken glaubt. Deshalb würde öfter die Entscheidungsfreude einer Orientierungslosigkeit weichen. Doch stimmt das? Der Schweizer Soziologe Robert Schäfer sagt dazu: „In der Soziologie zweifelt man daran, ob die Individuen heute wirklich autonomer seien. Viele wollen heute individuell reisen und nicht am organisierten Massentourismus teilnehmen. Wenn sie dann ihr Ziel erreichen, stellen sie fest, dass auf den vermeintlich abseits ausgetretener Pfade liegenden Wegen genauso so viele Touristen herumlaufen. Alle ausgestattet mit dem gleichen Lonely Planet und dazu in ähnlicher Kleidung. Menschen suchen Lebenspartner, möchten sich beruflich entwickeln, Sicherheit und Wohlstand erarbeiten.“ Demnach haben sich die Zielvorgaben bzw. Lebensträume kaum verändert. Selbst Aktivisten für den Klimaschutz unterscheiden sich in ihren privaten Sehnsüchten nicht von denen der Mehrheit. Sich also moralisch überlegen zu fühlen, könnte deshalb bereits den Keim einer späteren Enttäuschung in sich tragen.

 

Inzwischen wurde für die Sinnkrise bei jungen Menschen der Begriff Quarter-Life-Crisis geprägt. Sie tritt bei Erwachsenen im Alter zwischen 20 und 30 auf. Betroffene zweifeln an bisherigen Lebensentscheidungen, ihrem weiteren Fortkommen oder gar an ihrer beruflichen, finanziellen Kompetenz oder an ihrer Beziehungsfähigkeit. Wem es gelingt, diese Phase zu überwinden, kann eine umso stabilere Persönlichkeit entwickeln. Frühere Lebensbrüche oder Sinnkrisen und – ganz wichtig – deren Überwindung schaffen Stabilität und Souveränität gegenüber späteren Problemstellungen. Insofern ist die Krise in der Lebensmitte nur eine weitere Erfahrung zur Überwindung von empfundenen Missgeschicken.

 

Bis vor einigen Jahren versprachen manche Wissenschaftler, dass mit zunehmendem Lebensalter das Beste noch komme. Nach anstrengenden Jahren in der Mitte des Lebens würde man zufriedener werden. Inzwischen wird an der U-Kurve gezweifelt.   Mit der U-Kurve ist gemeint, dass es für 18-Jährige richtig gut läuft, dann gehe es bis zur Lebensmitte weiter runter. Nach der „Rush-Hour des Lebens“ mit Hochzeit, Kindern, Haus und Arbeit käme vielleicht noch eine Midlife-Crisis. Doch ab 55 würde es dann gefühlt wieder nach oben gehen. Mit Elan ginge es in die Rente, Kinder sind aus dem Haus und die Finanzen sind geordnet. Soziologe Fabian Kratz forscht an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und stellte sich die Frage: „Warum sollten denn Leute, kurz bevor sie sterben, am glücklichsten sein?“ Gemeinsam mit Prof. Josef Brüderl hat er namhafte Studien zu diesem Thema ausgewertet, Daten durchforscht, Falschberechnungen identifiziert und neu berechnet. Durch ihre Arbeit stießen sie auf vier typische Verzerrungen, die eine U-Kurve begünstigen könnten. Ein verzerrter „mortality bias“ gehört dazu. Diese Mortalitätsverzerrung erklärt Kratz damit, dass unglückliche Menschen früher sterben. Laut dem Wissenschaftler zählen dazu Menschen, die negative Kindheitserfahrungen gemacht oder eine genetische Prädisposition aufweisen. Ab 55 blieben nur die „happy survivors“ (glücklich Überlebende) übrig. Die Unglücklichen seien vorher gestorben, sodass nur noch die Glücklichen nach ihrer Lebenszufriedenheit befragt werden könnten.

 

Nach Fabian Katz ist die beste Zeit des Lebens mit Anfang 20. Was danach kommt, sind im Durchschnitt unglücklichere Jahre. Für die These, dass es ab dem 50. oder 55. Lebensjahr noch einmal richtig losginge, gibt es keine wissenschaftlichen Belege. Die Vorfreude auf den Eintritt ins Rentenalter kann noch ein wenig glücklich machen, vorausgesetzt die Rente reicht auch für den Lebensunterhalt mit Reise- und Genusszerstreuungen. Inzwischen wird bei der Altersarmut ein Anstieg vermutet, was diese Rentenvorfreude für viele trüben dürfte. Dennoch: Vielleicht existieren Enkelkinder. Die werden als Glücksbringer empfunden, weil man keine Pflichten damit verbinden muss. Fakt ist, dass es ab den Jahren in den 20ern bis 55 stetig bergab geht. Ab 20 setzt schleichend der körperliche Verfall ein, die Gesundheit nimmt kontinuierlich ab und ab etwa 30 schwindet allmählich das kognitive Fähigkeitslevel.

 

Mit dem Eintritt in die Rente sei ein Anstieg der Lebenszufriedenheit nicht mehr festzustellen. Für Fabian Kratz ginge es zwischen den Lebensjahren von 65 bis 90 um vier Skalenpunkte deutlich abwärts. Dafür ist vor allem die eigene Gesundheit verantwortlich. Krankheiten und Beschwerden tauchen vermehrt auf. Die unglücklichsten Jahre seien die letzten drei bis fünf Jahre vor dem Tod. Was sollen also eine Midlife-Crisis und forcierte Aufbrüche in die zweite Lebenshälfte für ein Dilemma sein? Man kann alle Lebensphasen mit Max Weber fassen, der rät, den Dämon zu finden, der des Lebens Fäden hält.

 

Man könnte an dieser Stelle auch noch einen Blick auf die sogenannte Mid-Career-Crisis werfen. Der Begriff soll beschreiben, dass um den 40. Geburtstag oft ein Punkt in der Karriere erreicht wird, an dem sich manche Erfolge eingestellt haben, Anerkennung erworben wurde und die Lebensgrundlage gesichert sei. Dennoch falle man in ein mentales Loch. Der Psychologe Tom Diesbrock nennt das „Zielerreichungsdepression“. Solche Zustände gehen oft mit dem sogenannten „Brown-out“ einher. Mitarbeiter verlieren schleichend das Interesse an ihrer Arbeit, weil diese von zu vielen Regeln, mangelnder Kreativität und einem fehlenden Sinn flankiert werden. Verkürzt wird das auch als Unterforderungs-Syndrom bezeichnet. Der Kreativität, Lebenskrisen in verschiedenen Lebensphasen zu identifizieren und zu beschreiben, sind keine Grenzen gesetzt. Gelassenheit heißt das Motto, dass zu jeder Zeit über allem schweben sollte. Der wichtigste Einflussfaktor für das Empfinden eigener krisenhafter Lebensabschnitte sitzt noch immer auf unserem Hals. Der dynamische Bewertungsapparat Hirn kann sich kaum verändernde Zustände nicht dauerhaft positiv bewerten. Jede Krise – außer Hunger, Krankheit oder Unfälle – gehört letztlich zu unserer Bewusstseinsnatur.

Seite 16/17, Kompakt Zeitung Nr. 237

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