Eine Hitzewelle kühl betrachtet

Dr. Franz Kadell

Die Berichterstattung über sommerliche Temperaturen überschlägt sich und will von ständig neuen Rekorden wissen. Es lohnt ein Blick in die Geschichte, um die Gemüter abzukühlen.

Lucas Cranach der Jüngere war Augenzeuge der Hexenverbrennung von Wittenberg 1540. Sein Holzschnitt zeigt die Toten nach der Verbrennung. Unten liegen kleine Aschehaufen. Die Eichenbalken sind kaum geschädigt. Zu seinem Holzschnitt stellte Cranach einen Text, in dem es heißt, Prista Frühbottin habe „mit dem teufel gebulet“, „Zauberey getrieben“, „Wetter gemacht“ und die „Viehweide vergifft“.

Alle reden vom Klima. Tun wir es also auch. Seit einigen Jahren eilen wir von Rekord zu Rekord, seriöse sind von unseriösen Aussagen und Zahlen oft nicht mehr zu unterscheiden. Wem Formulierungen wie „seit Beginn der Wetteraufzeichnungen“ oder „im Vergleich zur vorindustriellen Zeit“ nicht drastisch genug sind, muss nach stärkeren Worten nicht lange suchen: „Die wärmste Periode überhaupt“, „seit Menschengedenken“, „die schlimmste seit einem halben Jahrtausend“, „in den letzten 100.000 Jahren“, oder kurzweg „aller Zeiten“. Das hat schon Comic-Niveau. Wer bietet mehr?


Von Extremwetterlagen, Klimawandlungen, Menscheneinflüssen oder reinem Naturgeschehen wissen wir seit der Antike. Die Wissenschaft kann mal mehr, mal weniger zu einer Fragestellung sagen. Was den jüngeren Zeitraum seit dem Ausklingen der sogenannten kleinen Eiszeit — nach der mittelalterlichen Warmzeit vom 15. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert — anbelangt, so lohnt sich ein Blick auf das Schreckensjahr 1540. Es suchte Mitteleuropa viel schlimmer heim als andere Hitzewellen wie die von 1757 in Europa oder die von 1896 und 1911 in Nordamerika. Die nicht minder katastrophalen Kältewellen lassen wir hier praktischerweise mal ganz weg.


Das Jahr 1540 rührt an die Grenze unserer Vorstellungskraft und lässt uns noch heute erschaudern. Dabei sah es zu Anfang des 16. Jahrhunderts klimatisch recht günstig in Europa aus. Die Neige der Zwischeneiszeit brachte milde Temperaturen, ausreichend Regen, üppige Ernten. Die Bevölkerung wuchs rasch.

 
Doch dann kam das Katastrophenjahr 1540. Vom Januar an fiel bis zum Herbst lokal gar kein Regen oder nur ein Bruchteil dessen, was üblich war. Die Menschen litten nicht große, sondern größte Not. So trocken und heiß war es in Mitteleuropa seither nie wieder! Woher wir das wissen? Thermometer kamen erst am Ende des 18. Jahrhunderts in Gebrauch. Regelmäßige Temperaturmessungen gibt es seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Auch gab es freilich noch keine Fotografie, Satellitenbeobachtung oder andere Datenbeschaffung. Aber es gab unterschiedliche Aufzeichnungen, die ein umfassendes Bild von der größten Naturkatastrophe in Europa in geschichtlicher Zeit geben.


Landwirte, Winzer oder Schleusenwärter fertigten regelmäßig Aufzeichnungen an. Vor allem Mönche verzeichneten als Chronisten akribisch Regentage, Schneemengen, Frostnächte, Vegetationsentwicklung und Ernteerträge. Beispielsweise führte der Krakauer Theologe und Universitätsrektor Marcin Biem (1470 – 1540) ein Wettertagebuch mit verlässlichen Angaben zu Regen- und Schneefällen.

 
Vor nunmehr fast zehn Jahren hatten 32 Wissenschaftler vom Oeschger-Zentrum für Klimaforschung an der Universität Bern 312 schriftliche Quellen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts ausgewertet und ihre Ergebnisse im Fachmagazin „Climate Change“ veröffentlicht.


Das Drama begann bereits 1539 in Südeuropa, als der sonst übliche Regen ausblieb. Seit Oktober richtete in Spanien die Kirche Bittprozessionen für Regen aus. In Italien war es im folgenden Winter trocken und warm „wie im Juli“.

 
In Mittel- und Nordeuropa dagegen war von der sich abzeichnenden Dürre zum Jahreswechsel noch nichts zu merken. Recht laue, stürmische Westwinde brachten sogar viel Niederschlag, doch dann, ab Januar, fiel nichts Nennenswertes mehr. Die Menschen freute das sogar. Denn weniger Niederschlag bedeutete weniger Bürde durch Eis und Schnee. Doch die sonnigen Tage und sternenklaren Nächte täuschten.


Der Winzer Hans Stolz aus dem Elsass berichtete, es habe im März 1540 nur an drei Tagen geregnet. In Basel regnete es zwischen Anfang Februar und Martini (21. November), so vermerkte ein Chronist, nur an zehn Tagen. In Zürich gab es zwischen Februar und Ende September keinen einzigen Regentag. Im Fränkischen sahen die Menschen bis August nur an 19 Tagen ein paar Tropfen. In Mitteleuropa gab es im ganzen Sommer 1540 kein einziges Gewitter.

 
Während Mitteleuropa unter Dürre und Hitze ächzte, wurden Ost- und Nordosteuropa von anhaltenden Schnee- und Regenfällen, verbunden mit scharfer Kälte, heimgesucht. Aus Russland wurden wütende Schneestürme, Regenfluten und Hochwasser gemeldet. Dort fiel der Sommer aus.


Fällt kein Regen, trocknet der Boden aus; es bilden sich breite und tiefe Risse. Wo kein Wasser herabregnet, kann auch nichts verdunsten und Wärme aufnehmen. Dann heizt sich die Luft noch weiter auf. Was in angenehmen Zusammenhängen „positive Rückkopplung“ genannt wird, ist hier mit Teufelskreis besser benannt.
Der Bodensee war fast ausgetrocknet. Alt-Lindau, sonst eine Insel, war mit dem Festland verbunden. Wo sonst Wasser war, suchten die Menschen jetzt nach römischen Münzen.

 
In Basel konnte man den Rhein zu Fuß durchqueren. Ähnlich sah es in Frankreich an der Seine aus. Oder in Deutschland an der Donau und an der Elbe. (Zum Vergleich: 2003 führte die Elbe nur die Hälfte ihrer üblichen Wassermenge, 1540 war es ein Zehntel!)


Quellen versiegten, Brunnen fielen trocken. Die Menschen gruben in den trockenen Flussbetten nach Wasser, so notierte der Chronist Hans Salat in Luzern, wo sie auch anderthalb Meter tief „keinen Tropfen“ fanden.


Wir denken bei Flüssen meist nur an Hochwassermarken, die bei Normalständen gut zu sehen sind. Früher wurden jedoch auch Tiefwassermarken in Flusssteine gehauen, die normalerweise halt im Wasser verborgen liegen. Nicht umsonst heißen sie „Hungersteine“. Wir finden sie an Rhein, Mosel und Weser. Auch in der Elbe liegen von Böhmen an etliche solcher „Hungersteine“.
Wer einen Brunnen hatte, der noch Wasser hergab, musste ihn bewachen oder verbarrikadierte sich gar. Wann aus frei zugänglichen Brunnen Wasser geholt werden dufte, wurde durch Glockenschlag mitgeteilt. Bauern mussten ihr Vieh bis zu zehn Kilometer zu Wasserstellen führen.

 
Wo kein Gras wächst, gibt es kein Heu. Tiere wurden notgeschlachtet. Keine Zugtiere, kein Fleisch, keine Felle, keine Federn.

 
Die Flussschiffahrt brach zusammen, Mühlen mussten wegen Wassermangels ihren Betrieb einstellen. „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“ machte keinen Sinn. Die Preise für Mehl und Brot explodierten. Die Menschen litten Durst und Hunger. Bei Durst hat Hygiene schnell ausgespielt. Die Menschen tranken verunreinigtes Wasser. Die meisten starben damals nicht an Durst, sondern an Ruhr, einer Entzündung des Dickdarms. Andere brachen auf den Feldern oder an den Hängen der Weinberge nach einem Hitzeschlag zusammen.

 

Wald- und Weidebrände allerorten fraßen sich in die Städtchen mit ihren Fachwerkhäusern. Mehr als sonst jemals in Friedenszeiten zerstörte Feuer Häuser, Ställe und Scheunen. 1540 brannten in Deutschland 33 Städte nieder. So auch am 26. Juli Einbeck am westlichen Vorland des Harzes, die Stadt, dessen Bier Martin Luther genossen hatte.


Wo das Gemeinwesen zusammenbricht, müssen Schuldige her. Nicht nur Gewalttaten nahmen zu, auch die Zahl derer, die als „Mordbrenner“ oder Brandstifter hingerichtet wurden. Oft zu Unrecht, wenn — wie in Einbeck — ihre Geständnisse unter Folter erzwungen worden waren.


In Wittenberg wurde die bettelarme Prista Frühbottin mit ihren für damalige Verhältnisse schon beachtlichen 50 Jahren beschuldigt, das Wetter durch Zauberei beeinflusst und die Weiden vergiftet zu haben. Sie gehörte wie Abdecker zum Milieu der „unehrlichen Berufe“. Am 29. Juni 1540 wurde sie mit ihrem Sohn Dictus und zwei weiteren Abdeckergehilfen „geschmäucht“, wie das Verbrennen damals hieß. Abdecker gerieten schnell in Verdacht, weil sie angesichts der vielen Notschlachtungen mehr als sonst gefragt waren.
Ein weiterer Sohn der Prista Frübottin, Peter Frühbott, floh mit dem ebenfalls der Hexerei verdächtigten alten Scharfrichter Magnus Fischer. Peter Frühbott wurde in Zerbst gefasst und dort gehängt. Fischer wurde in der Grafschaft Mansfeld ergriffen und in Eisleben verbrannt.


Nur nebenbei: Luther, der zur Hinrichtungszeit nicht in Wittenberg war, glaubte an Hexerei und befürwortete Verbrennungen. Ebenso sein Freund Lucas Cranach der Ältere, Bürgermeister von Wittenberg. Der ganz große Hexenwahn kam allerdings erst eine Generation später — bemerkenswerterweise ebenfalls in Verbindung mit Wetter- und Klimamutmaßungen.


So paradox es klingt: Die Katastrophe von 1540 hatte eine vorteilhafte Kehrseite. Der Wein gedieh prächtig. Zuckergehalt und Alkoholanteil stiegen, bescherten einen „Jahrtausendwein“. Ein Chronist schwärmte: „Er sieht im Glas aus wie Gold.“ Aus dem französischen Limoges wurde berichtet, aus den angetrockneten Trauben sei ein sherryähnlicher Wein gewonnen worden, der schnell trunken machte. Jedenfalls war Wein am Bodensee oder in Bayreuth zeitweilig billiger als Wasser.

 
Besonders der „Würzburger Stein“ hatte es in sich. Zunächst verloren die Reben vorzeitig die Blätter und die Trauben schrumpelten. Also zog man die Lese vor, ließ aber die trockenen Trauben hängen. Als dann doch ein paar Tropfen Regen fiel, quollen diese wieder auf. Es folgte eine zweite Lese. So sei, meinen jedenfalls viele Weingeschichtler, die Spätlese erfunden worden.
Als die Schweden im Dreißigjährigen Krieg 1631 Würzburg besetzten, suchten sie nach dem Wunderwein. Vergeblich. Die Würzburger hatten die Fässer ahnungsvoll eingemauert. Im 19. Jahrhundert ließ König Ludwig II. den fränkischen Wein — inzwischen gehörte Franken zu Bayern — zur Finanzierung seiner Märchenschlösser versteigern. Ein englischer Händler erwarb gleich mehrere Fässer der Kostbarkeit.


In den 60er-Jahren kosteten einige Auserwählte von dem Würzburger Realtraum. Der „Spiegel“ griff später Schilderungen der erhabenen Momente auf. Professor Rüdiger Glaser von der Universität Freiburg habe für einen Augenblick den „einmaligen Spirit“ auf der Zunge gespürt; dann aber sei der Wein zu Essig zerfallen. Noch heute lagern ein paar Flaschen vom Würzburger 1540er Wein im Weinmuseum in Speyer und im Würzburger Bürgerspital zum Heiligen Geist.


Wie war es zur Katastrophe von 1540 überhaupt gekommen? Der „Jahrtausendsommer“ mit seiner „Jahrtausenddürre“, hier ohne Übertreibung sprachlich korrekt bezeichnet, fiel schließlich mitten in die kleine Eiszeit! Die Schweizer Forscher rekonstruierten, dass sich von Südwest- bis Nordosteuropa ein riesiges Hochdruckgebiet erstreckte, das zusätzlich mit dem Azoren-Hoch verbunden war. Dieses Hochdruckgebiet blockierte elf Monate lang die Westwinde. Somit blieb die übliche Zufuhr feuchter Luftmassen vom Atlantik in Form eines Tiefdruckgebietes aus. Die Meteorologen sprechen von einer Blockadelage, wie sie auch im Frühjahr 2018 herrschte, als es im Frühling sprunghaft schon sommerlich war. Fazit? Wiederholung möglich. Ausmaß offen.

Seite 20/21, Kompakt Zeitung Nr. 237

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