Wenn Hassen und Lieben zerreißt
Von Peter Hoffmann
Anthologie anlässlich des 90. Geburtstages von Brigitte Reimann mit bemerkenswerten Erinnerungen

Ein Buch bildet das schützende Dach. Auf der Giebelwand neben dem Geburtshaus der Schriftstellerin Brigitte Reimann in Burg erblickt Dorothea Iser dieses Symbol. Sie macht es auch für den Nicht-Ortskundigen sichtbar, indem sie das Gesehene in eine Geschichte mit dem Titel „Odi et amo“ einfügt. Der Titel bezieht sich auf eine Gedichtzeile von Catull: „Ich hasse und liebe“.
Hass und Liebe spannen sich als Bogen durch die soeben erschienene Anthologie „Blumen für Polefki“. Herausgeber sind Günter Hartmann, Autor, bekannt durch seine Aphorismen, Dorothea Iser, Schriftstellerin, Roland Stauf, Journalist und Autor. Iser nimmt in einem ihrer Beiträge eine imaginäre Begegnung mit einer ehemaligen Lehrerin zum Anlass, Lebensbilanz zu ziehen, immer wieder in Anlehnung an die von ihr verehrte Schriftstellerin Brigitte Reimann, die sie wie folgt zitiert: „Meine Suche nach Wahrheit endete in Enttäuschung, die, wie es scheint, nie enden will.“ Es geht in diesem Zusammenhang um Menschen, die in der DDR aufgewachsen, Mauerbau und Abwerbung von Fachkräften, Bodenreform und Kollektivierung der Landwirtschaft, die Hoffnungen von 1989 und andere Ereignisse in sich verinnerlicht haben. „Hassen und Lieben zugleich zerreißt“, schreibt sie.
Und immer wieder taucht der Name Brigitte Reimann auf, als „bedeutende deutsche Nachkriegsschriftstellerin“, die mit ihrem Roman „Ankunft im Alltag“ den Begriff der „Ankunftsliteratur“ prägte. Aber auch anderer verdienstvoller Schriftsteller und Kunstschaffender wird gedacht, die ihren Anteil an der literarischen-künstlerischen Entwicklung junger Talente hatten: In dieser Tradition stehen Otto Bernhard Wendler, Gerhard Stauf, Gerd Bunzenthal, Irene Mertens, Gerhard Gundermann, Tamara Danz, Helmut Sakowski und Heinz Kruschel. Sie alle verbindet in „Blumen für Polefki“ die „Suche nach der freundlichen Welt“.
Das Buch als schützendes Dach: Erinnert wird an den Schriftsteller Helmut Bürger, ehemals Lehrer in Möckern und Gommern, der über sich selber schrieb: „Ich hatte körbeweise Träume, / Voll Mark und voll Blut. / Was wahr in mir wurde, passte / in einen Fingerhut“.
In „Rolf und die Mädchen“ schildert Rolf Winkler, 85 Jahre alt und damit der älteste der gegenwärtigen Autoren, zwölf Episoden aus seiner Jugendzeit. In einer verpasst er einer Bewerberin, die auf sein Zimmer möchte, einen „Korb“. Doch vorher fragt sich der Leser: Wird er der Versuchung erliegen oder seinen Prinzipien treu bleiben?
Von Verheißungen ganz anderer Art schreibt Charlotte Buchholz. Sie erlebt die Einkaufsreisen nach Westberlin vor dem Mauerbau und die damit verbundenen Verlockungen. Voller Zweifel und Hoffnungen durchlebt sie den Werdegang der DDR. Aber auch unter den neuen Verhältnissen nach 1989 ist sie eine Suchende geblieben. Wie vielen Menschen mag sie aus dem Herzen sprechen und damit das Gefühl vermitteln, mit ihren Zweifeln nicht allein zu sein?
Oder lesen Sie von Juliane, die als Mädchen geboren wurde, aber keines sein wollte. Wie lebt ein Kind mit der Tatsache, wenn der geliebte Vater nicht akzeptiert, dass in dem kleinen Dorf mit althergebrachten Ansichten an einem Tabu gerüttelt wird? Dem geht Lutz Sehmisch mit seiner Erzählung nach.
Jeder der insgesamt 33 im Buch vertretenen Autoren hat etwas substanziell Wichtiges zu sagen. Die jüngste Autorin ist 17 Jahre alt. Frisch und unkompliziert befragt Samira Bäger fiktiv Brigitte Reimann. In diesen Dialogen wird die Schriftstellerin für junge Leute interessant.
Autoren aus Zella-Mehlis, Schwerin, Frankfurt/ Oder und Potsdam schrieben über ihre Grenzerfahrungen. Hartmann, Iser und Stauf haben die Texte zusammengetragen und thematisch geordnet. Der Zeitpunkt ist nicht von ungefähr gewählt: „Krisenzeiten. Wir bewegen uns zwischen Angst und Hoffnung. Mal euphorisch, mal verzweifelt machen wir Grenzerfahrungen. Wir schreiben gegen das Vergessen, bangen um die Zukunft unserer Kinder und bewegen uns damit im privaten und öffentlichen Raum. … Diese Anthologie regt an zum Denken, Schreiben und Handeln in einer zerrissenen Welt.“ So formulierte Steffi Obieglo als Vorsitzende des Pelikan e. V. ihre Eindrücke im Geleitwort. Viele Leser werden in den Gedichten und Prosatexten dieses Buches Teile ihres bisherigen Lebens, ihres Denkens und Handelns wiederfinden. Schon die Bestätigung, dass man nicht allein mit seinen Höhen und Tiefen, den Widrigkeiten und auch Hoffnungen ist, kann helfen, bei der Lektüre dieses Buches das Gefühl von Schutz und Geborgenheit zu finden.
„Blumen für Polefki“? Wie sieht das Leben ganz normaler Leute hier und heute in einem gemeinsamen Haus aus? Roland Stauf lässt in seiner Titelgeschichte den Journalisten Wunderlich in ein etwas wundersames Haus einziehen. Was etwas kurios beginnt, offenbart sich bald als liebenswerte Lebenswirklichkeit der einfachen Leute. „So etwas habe ich auch schon erlebt, solche Leute kenne ich!“, werden manche Leser da spontan ausrufen wollen. Aber nichts ist von Dauer. Denn am Schluss der Handlung fliegt eine Taube aus dem verlassenen Gemäuer …
Seite 14, Kompakt Zeitung Nr. 238