Ich spreche Deutsch: Klein, aber oho!
Von Dipl.-Dolmetscher u. -Übersetzer Dieter Mengwasser
Richter: Woraus wollen Sie schlussfolgern, dass der Angeklagte zu Hause war?
Zeuge: Weil das Licht an war.
Richter: Also Sie meinen, das Licht in seinem Zimmer brannte?
Zeuge: Ja, genau, und auch der Fernseher war an. Und durchs Fenster habe ich gesehen, der Mann hatte auch einen Schlafanzug an.
Nun, liebe Leserinnen und Leser, vielleicht haben Sie schon erraten, worum es geht. Es geht um ‚an‘, so ein ganz kleines Wort, aber Sie werden merken, dieses Wörtchen hat es in sich.
Abtrennbare Vorsilbe bei Verben: Es fängt an mit ‚an‘ als Vorsilbe bei Verben: anfangen, anspringen, antreiben, anlassen, anecken, angrenzen, ansehen, anwenden, anspannen, anbieten … und so weiter und so fort. Da gibt es tatsächlich eine Vielzahl dieser trennbaren Verben, denn wenn wir sie in einem Satz verarbeiten, dann wird bei den konjugierten Formen, den sogenannten finiten Formen (im Gegensatz zum Infinitiv, der Nennform), diese Vorsilbe ‚an‘ abgespalten, und sie bildet mit dem Hauptbestandteil des Verbs den sogenannten Satzrahmen: Er spannte alle seine Kräfte an. (Infinitiv: anspannen). – Polen grenzt im Osten an Weißrussland. (Inf.: angrenzen). – Der Kutscher trieb das Pferd zu größerer Eile an. (Inf.: antreiben). – Wendest du auf deinem Computer auch die neueste Software an? (Inf.: anwenden).
Ansein? Es existiert also eine große Vielzahl von Verben mit dieser Vorsilbe. Wir kehren aber nochmal zum Anfang unseres Artikels zurück, wo von Licht ‚an‘ und Fernseher ‚an‘ die Rede ist. Erstaunlicherweise existiert aber nicht das Verb ansein, Sie werden es im Duden und auch in anderen Nachschlagewerken nicht finden, und wenn Sie im Computer eine automatische Rechtschreibeprüfung haben, dann ist ‚ansein‘ rot unterstrichen. Zu dem oben angeführten Satz ‚… hatte auch einen Schlafanzug an.‘ muss angemerkt werden, dass ‚anhaben‘ in finiten Formen, also konjugiert (ich habe … an, du hast … an) im Zusammenhang mit Kleidung und einigen anderen Anwendungen getrennt werden kann: – Ich habe einen Pullover an. – Nur einen Schlüpfer hatte sie an. – Der Fahrer hatte den Motor noch an. Die Vorsilbe kann jedoch nicht abgetrennt werden, wenn es sich um ‚jemandem etwas anhaben‘ handelt, nämlich in der Bedeutung von jemandem etwas Schlechtes antun, schlecht behandeln, verurteilen: – Der Staatsanwalt kann mir nichts anhaben (d. h. er kann gegen mich nichts unternehmen). – Der Direktor kann mich nicht leiden, irgendwie will er mir immer was anhaben.
‚an‘ als Einzelwort: Im Weiteren wollen wir uns ansehen, wie ‚an‘ als Einzelwort, nicht in der Verbindung Vorsilbe mit Verb, auftritt. ‚an‘ dient erstens als Präposition (Verhältniswort) zur Bezeichnung eines Ortes, und es kann dabei mit zwei grammatischen Fällen der Deklination in Verbindung gebracht werden:
1. mit dem Dativ (3. Fall, Wemfall): – Ich stehe ‚an‘ der Ecke. (Frage dazu: Wo stehe ich?). – Die Haltestelle ist direkt an der Schule. (Frage dazu: Wo ist die Haltestelle?). – Ist der Kapitän schon an Bord? – Vorige Woche hatten wir keinen Kohl am Lager. – Wir stehen hier am Ufer der Elbe.
2. mit dem Akkusativ (4. Fall, Wenfall): – Ich gehe ‚an‘ die Ecke. (Frage dazu: Wohin gehe ich?). – Die Haltestelle ist direkt an die Schule verlegt worden. (Frage: Wohin ist die Haltestelle verlegt worden?). ‚an‘ mit dem Dativ drückt somit den Ort aus, an dem man sich befindet, quasi statisch, während mit dem Akkusativ die Richtung, eine Dynamik, bezeichnet wird.
Wir stellen auch fest, dass ‚an‘ als Präposition zusammen mit dem Dativ des deklinierten männlichen Artikels (dem) und auch des deklinierten sächlichen Artikels (dem) zu ‚am‘, mit dem Akkusativ des sächlichen Artikels (das) zu ‚ans‘ verschmelzen kann: – Ich komme am Dienstag zu dir. – Der Segler machte das Boot am Steg fest. – Die Schwimmer warteten am Ufer auf die Siegerehrung. – Ans Buch traut er sich nach dem Schlaganfall nicht mehr heran. Gewisse Nuancen kann es doch in der Anwendung dieser verschmolzenen Wörter im Vergleich zu den einzeln genommenen Bestandteilen geben, aber diese Bedeutungsschattierungen sind minimal, sie sind theoretisch schwierig zu beschreiben und hängen, wie vieles in einer lebendigen Sprache, vom Kontext ab. Wir geben nachfolgend die gerade genannten Sätze mit getrennten Bestandteilen wieder, das heißt mit dem ausgeschriebenen bestimmten Artikel: – Ich komme an dem Dienstag zu dir. (In der Bedeutung, dass hier viel stärker auf einen bestimmten Dienstag hingewiesen wird.) – Der Segler machte das Boot an dem Steg fest. (Eben an dem bestimmten Steg, nicht an einem anderen Steg.) – Ans Buch traut er sich nach dem Schlaganfall nicht mehr heran. Eine solche Aussage ist sehr allgemein gehalten: er liest keine Bücher mehr. Wir formulieren den Satz neu ohne Bezug auf Schlaganfall: – An das Buch traut er sich nicht heran. Hier ist ganz eindeutig, dass er gerade dieses bestimmte Buch meidet, vielleicht weil es zu langweilig ist, zu viele Fremdwörter enthält oder schlechte Erinnerungen in ihm hervorruft. In diesem konkreten Fall wäre es nicht angebracht, ‚ans Buch‘ zu sagen.
‚an‘ für Benennungen und Bezeichnungen in unterschiedlichen Kontexten:
Beschäftigung: – Vater ist am Arbeiten. – Unser Direktor ist stets am Überlegen, wie er die Prozesse vereinfachen kann. – Der französische Schriftsteller Victor Hugo war stets am Schreiben. – Ewig lange nippelt er schon an seinem Glas herum. Beziehung zu jemandem oder zu etwas: – An unserer Weihnachtsgans war nicht viel dran. – An dieser Geschichte ist doch etwas faul! – Endlich bin ich an der Reihe, auch mal ausgezeichnet zu werden. – Es liegt einfach an dem Klempner, dass wir noch nicht in das neue Haus einziehen konnten. (= er hat Schuld). – Sie müssen an Steuern rund 6.000 Euro bezahlen.
Krankheit: – Der alte Bauer litt an Rheuma. – Ob die Leute wirklich nur an Covid-19 gestorben sind? – Die meisten KZ-Häftlinge starben an Entkräftung.
Merkmal: – Fräulein Heidel ist noch jung an Jahren. – Durch die Geburt des Jungen schien sie an Schönheit gewonnen zu haben. – Der Donbass ist reich an Steinkohle.
Merkmal, Identifizierung: – Den Angeklagten habe ich an seinem watscheligen Gang erkannt. – Diesen Sänger erkennt man sofort an seiner rauchigen Stimme. – Den Reiseleiter könnt ihr an seinem hocherhobenen Schild erkennen.
Ungefähre Menge: – Bis zum Strand müsst ihr so an die zwei Kilometer laufen. – Sie müssen damit rechnen, dass Sie an die 5.000 Euro Steuern zahlen müssen. – Der Vorstandsvorsitzende dieser Aktiengesellschaft kriegt jedes Jahr so an die zwei Millionen als Boni.
Datum oder Zeit: – Am 17. März ist der Betrag fällig. – An Weihnachten (Achtung, dieser Gebrauch ist mehr in Regionen Westdeutschlands üblich, in Ostdeutschland wird eher gesagt: zu Weihnachten) können wir euch wegen Corona leider nicht besuchen. – Von Jugend an (von klein an, von Kind an) bin ich daran gewöhnt. – Bis an sein Lebensende wird er sich daran erinnern.
Mittel, Ausdruck von ‚mit Hilfe von‘: – Die Zahl der fähigen Schüler lässt sich an den Fingern abzählen. – Dir ist es an der Nasenspitze anzusehen, dass du dich nicht wohlfühlst. – Bei Opa im Garten kann ich mich richtig an Kirschen sattessen. – An einem Bier hat er genug für den ganzen Abend. – Nach seinem Unfall muss er an Krücken gehen.
Zweckgerichtetheit: – Bestellen Sie einen schönen Gruß an Ihre Frau! – Hat jemand eine Frage an mich? – Hier ist ein Brief an den Chef. – Als Mutter verstehe ich nicht, was Claudia an ihrem neuen Freund findet. – Glaubt ihr an Gott?
Zugehörigkeit oder Beziehung: – An der Geschichte ist nichts dran. (sie ist nicht wahr). – Du bist jetzt an der Reihe, einen auszugeben. – Diesem Lehrer liegt viel am guten Verhältnis zu seinen Schülern. – Leider fehlt es manchem an der nötigen Ausdauer.
Wir sehen, liebe Leserinnen und Leser, was ‚an’ doch für ein Universalwort ist. Auch wenn Sie die Einteilung in diese Kategorien (Bezeichnung einer Zugehörigkeit, einer ungefähren Menge u. ä.) vielleicht nicht immer teilen können, sehen Sie doch, dass dieses kleine Wörtchen dazu dient, vieles in einfacher Weise und dabei doch ziemlich präzise auszudrücken. Und immer wieder kommt es auf den Kontext an! Der Vollständigkeit halber verweisen wir auch noch auf Redewendungen mit ‚an‘: an und für sich = eigentlich, genau genommen; ab und an = ab und zu, hin und wieder, manchmal.
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Seite 32, Kompakt Zeitung Nr. 238