Freizeit und ihre Schattenseiten

Von Thomas Wischnewski

Von Arbeit und Pflichten befreit sein – das bewegt viele Menschen täglich. Freizeit ist ein positiv besetzter Begriff. Doch wachsende Potenziale an freier Zeit haben manche Kehrseiten. Nur wollen
wir solche häufig nicht sehen und wünschen uns stattdessen besser noch mehr Freizeit.

„Früher sind die Menschen für die Freiheit auf die Barrikaden gegangen, jetzt tun sie es für die Freizeit.“
Werner Finck (1902-1978; deutscher Kabarettist, Schauspieler und Schriftsteller)

Man möchte dem Werner Finck im vorangestellten Zitat Recht geben. Freizeit erscheint heute als eines der höchsten Güter des modernen Menschen. Die Ansprüche nach mehr Freizeit wachsen. Und dass sich nur Gutes mit dem Wort Freizeit verbinden würde, hat offenbar naturgesetzmäßige Vorstellungskraft erreicht. Das Wort Freizeit ist ein Wort der Moderne. Das Kompositum aus frei und Zeit wurde 1823 erstmals schriftlich durch den deutschen Pädagogen Friedrich Wilhelm August Fröbel mit seinem heutigen Begriffsinhalt dokumentiert. Es beschreibt den Zeitraum außerhalb von Schul- oder Arbeitszeiten, über den eine Person selbstbestimmt verfügen kann. Natürlich kannte man bereits im Altertum Phasen, in denen keine Arbeit oder kein Lernen erledigt werden musste. Das gebräuchliche Wort hieß damals „Muße“. Bereits der griechische Philosoph Aristoteles schrieb in seinem Werk „Politiká“: „Wir arbeiten, um Muße zu haben …“. Selbst Sklaven und der griechischen Unterschicht wurde freie Zeit zugesprochen. So durften Untertanen rund 60 Tage im Jahr bei Olympischen Spielen oder anderen Festen verbringen. Jedoch galt für alle Griechen gleichermaßen, dass Freizeit nicht individuell genutzt werden konnte. Die freie Zeit sollte im öffentlichen Interesse zum Wohl des Staates verbracht werden.


Auch die deutsche Klassische Philosophie beschäftigte sich mit dem Begriff der freien Zeit. 1865 tauchte der Begriff im deutschen Wörterbuch von Daniel Sanders auf und nahm Bezug auf Hegels Dialektik von Notwendigkeit und Freiheit. Karl Marx erkannte Mitte des 19. Jahrhunderts den dialektischen Zusammenhang von Arbeit und Freizeit und beschrieb in der Freizeit „einen großen Wert für die Emanzipation des Menschen und damit für die Wiedergewinnung der Menschlichkeit aus der Entfremdung“. Selbstverständlich war das Ringen um Freizeit damals notwendig. Unter der industriellen Revolution waren Arbeiter bis zu 16 Stunden täglich an ihren Arbeitsplatz gebunden. Die Gründe für die ab etwa 1850 fortschreitende Verkürzung der Arbeitszeit waren unter anderem der gesundheitlich bedenkliche Zustand der Erwerbstätigen als sozialer Aspekt sowie die zunehmende Automatisierung der Produktion, wodurch der Bedarf an menschlichen Arbeitskräften zusehends sank als ökonomische Voraussetzung. Seit 1908 brauchten Frauen täglich nur noch zehn Stunden zu arbeiten. Im Jahre 1918 wurde die 48-Stunden-Woche eingeführt und damit die Entwicklung der Tagesfreizeit zum Ziel. Die Bayer AG führte im März 1931 in fast allen Betriebsstätten die 40-Stunden-Woche ein. Das Bewusstsein über die gewonnene Freizeit stieg. Doch auch die Möglichkeiten, die gewonnenen Tagesstunden inhaltlich zu füllen, nahmen zu.


Mit wachsenden Freizeitpotenzialen gingen die ersten gesetzlichen Regelungen einher. Die ersten tarifvertraglichen Urlaubsregelungen in Deutschland stammten aus dem Jahr 1903. Dem Zentralverband deutscher Brauereiarbeiter, der Vorläuferorganisation der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Tarifverträge mit den Stuttgarter Ringbrauereien und der Brauerei in Greiz handelten aus, dass Beschäftigte nach einer mindestens einjährigen Betriebszugehörigkeit drei Tage bezahlten Erholungsurlaub erhielten. Während der Weimarer Republik stieg die Zahl der Urlaubstage für Arbeiter und Angestellte auf acht bis zwölf Tage an. Die Nationalsozialisten verlängerten mit der Gründung der KdF-Organisation den Urlaubsanspruch auf zwei bis drei Wochen pro Jahr, allerdings ohne gesetzliche Regelung.


Der kleine historische Exkurs ist wichtig, um zu verstehen, welche Dynamik mit heutigen Freizeitvorstellungen und -möglichkeiten verbunden sind. Auf der Liste der Länder mit der kürzesten durchschnittlichen Wochenarbeitszeit im Jahr 2022 stehen die Niederlande (32,4 Stunden), gefolgt von Österreich (33,7 Stunden), Norwegen (34,1 Stunden) sowie Dänemark und Deutschland (beide 34,6 Stunden). Die maximale Wunscharbeitszeit der Deutschen liegt inzwischen bei 32,8 Wochenstunden Arbeit. Rechnet man die durchschnittlichen Urlaubsansprüche ein, ist Deutschland nach Norwegen Europa-Vizemeister in Sachen Freizeit. Auffällig ist dabei jedoch, dass die Norweger mehr als doppelt so viel Zeit in das Treffen von Freunden investieren und weniger Zeit vor dem Fernseher oder Radio verbringen.


An dieser Stelle muss auf die Kehrseite von viel freier Zeit geschaut werden. Ohne den wirtschaftlichen Wohlstand einerseits und die Zeitpotenziale andererseits wären viele Dinge des modernen Lebens nicht denkbar. Freizeit ist neben Zerstreuung mittels Medienwelt, eben auch die Gelegenheit für Hobbys. Sportliche Aktivitäten mögen da auf der positiven Skala stehen, aber Freizeit ist eben auch Triebkraft für Konsum. Vom Shoppen – egal ob online oder durch den stationären Handel – bis zu Partys, Lang- oder Kurzreisen, das Anwachsen eines Technikparks im Haushalt, Gartengrundstücke, private Ferien- und Freizeitdomizile, Wohnmobile, Boote, Motorradfahren als Saisonleidenschaft, Bergsteigen, Tauchunternehmungen und vieles andere mehr sind Symbole von Freizeit. Und wir alle finden wunderbar, sich mit Dingen, Orten und Tätigkeiten zu umgeben, denen wir den Stempel Freizeit aufdrücken können. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Wunsch nach mehr freier Zeit weiter wächst.


Bildet man über die zahlreichen Freizeitmöglichkeiten Grundgesamtheiten, kommen da gewaltige Zahlen heraus. Rund vier Millionen Personen aus Deutschland unternahmen im Jahr 2022 eine Kreuzfahrt. Die Anzahl aller Urlaubsreisen betrug im vergangenen Jahr 67,1 Millionen. Damit ist das Vorcorona-Niveau fast wieder erreicht. Verwundert hat kürzlich auch die Zahl, dass der Anteil der unter 30-Jährigen an Flugreisen auf 29 Prozent gestiegen ist, die jemals höchste ermittelte Zahl. Dabei wird doch meistens verbreitet, dass sich junge Menschen wegen des Klimawandels besonders umweltbewusst und nachhaltig verhalten würden. Im Übrigen ist die Freizeitindustrie von der Gastronomie über den Tourismus und andere Erlebnisangebote natürlich nicht nur ein Arbeitsplatzmotor, für die Freizeitbeschäftigung aller müssen gewaltige Energiemengen erzeugt und Rohstoffe abgebaut werden. In diesem Zusammenhang hört man häufig, dass das kapitalistische System für den Raubbau an natürlichen Bedingungen verantwortlich wäre. Der eigene, ganz individuelle Wunsch nach einem angemessenen Füllen von Freizeit, der in allen Menschen steckt, führt dazu, dass nicht nur die Firmengiganten die zerstörerische Kraft an der Umwelt entfalten. Aber Freizeit ist ja bekanntlich etwas Positives.


Wenn man über Ausbeutung durch Arbeit im Sinne von Kapitalmechanismen spricht – die sich allerdings nur innerhalb von Arbeit realisieren kann –, muss man auch fragen, wo die vielen ausgebeuteten Menschen sind, die im öffentlichen Bereich tätig sind. Im öffentlichen Sektor kann schließlich nicht von privatem Profit gesprochen werden. Dennoch formulieren Gewerkschaften wie zu allen vergangenen Zeiten, dass Beschäftigte mehr Ausgleich zu den Arbeitsanforderungen erhalten müssten. Das Freizeitverhalten, dass sich aus geringeren Arbeitszeiten ergibt, wird dabei nicht betrachtet. Wir machen aber in unserer freien Zeit auch viel Unsinniges. Nicht notwendige Fahrten von A nach B, manchmal aus purer Langerweile, Drogenkonsum – auch der von Alkohol und Tabak gehören in die freie Zeit.


Der wohlgemeinte Begriff heißt heute Selbstentfaltungsmöglichkeiten. Doch, je mehr man sich ums Selbst kümmert, wie viel bleibt dann noch für andere übrig? Auch wenn das eine rhetorische Frage ist, muss sie gestellt werden. Kurioserweise – und in anderen Beiträgen in dieser Zeitung schon vielfach angesprochen – ist, dass trotz sinkender Arbeitszeiten psychische Beeinträchtigungen kontinuierlich zunehmen. Das kann doch offenbar nicht ausschließlich auf das Thema Arbeit zurückgeführt werden. Doch überall liest und hört man nur Berichte über mehr Stress, mehr Druck oder mehr Leistungen. Warum findet man kaum Veröffentlichungen über die Destruktivität von zu viel Zeit? In der Psychotherapie ist das Phänomen hinlänglich bekannt, dass Selbstbeschäftigung in einen Strudel depressiver Zustände führen kann. Manches Mal muss man nur auf Zeitgenossen vor dem Fernsehappart schauen. Wie oft fällt da so ein Satz wie: Die bringen nur wieder Mist! Wenn man doch in diesem Moment keine bessere Idee für das Nutzen der Freizeit hat, kann man doch andere Unbekannte nicht dafür verantwortlich machen. Außerdem haben die Geräte alle einen Ein- und Ausschalter.


Der vielleicht wichtigste Aspekt, der mit einer wachsenden Freizeit und Selbstverwirklichungswünschen einher geht, ist ein schleichendes Bröckeln eines sozialen Kitts. Obwohl Deutsche weniger Kinder haben, und eigentlich mehr Zeit, sich um solche zu kümmern, fließt die freie Zeit kaum in andere soziale Sphären. Vereine haben Nachwuchssorgen, nicht nur bei Jugendlichen, auch in der mittleren Generation engagieren sich weniger für gemeinschaftliche Projekte. Wer sich aufgrund individueller Möglichkeiten mehr um sich selbst dreht, wird vielleicht weniger Verantwortungsbewusstsein gegenüber anderen bzw. der Gesellschaft überhaupt entwickeln. Von der „Ellenbogengesellschaft“ ist schon seit Jahrzehnten die Rede, aber offenbar entsteht die weniger am Arbeitsplatz – weil dort Menschen noch in größeren Gruppen zusammenwirken müssen – sondern viel mehr durch ein wachsendes Freizeiterleben für alle modernen Individuen.

Seite 4/5, Kompakt Zeitung Nr. 239

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