Zwischen Überforderung und Bastelbiographie
Individuen und Rollenrepertoires in der Gegenwart – In traditionalen Gesellschaften bekamen Menschen ihre Rollen oft verbindlich zugewiesen. In der Gegenwart jedoch gibt es ein großes Rollenrepertoire, aus dem der einzelne selbstständig wählen kann und muss. Das kann auch zu Überforderungsgefühlen führen.
Der hier veröffentlichte Text ist ein Auszug aus den Konzepten von Frau Prof. Dr. Renate Girmes und ihrem Team von „Omnimundi“. Es geht darum, sich Aufgaben zu stellen – egal, ob persönliche oder berufliche – und diese zu bearbeiten. Allen auf der Welt stellen sich grundlegend 9 Aufgaben. Unter der Internetadresse omnimundi.de findet man weitere Inhalte zum Verständnis über nachhaltige Bildung.
Wir als individuelle Menschen leben immer schon im Rahmen institutioneller Gefüge: durch Familie, Schule, gesellschaftliche, ökonomische und staatliche Einrichtungen mit all ihren formellen Regelungen und Gesetzen und alle Arten von informellen Konventionen und „Gepflogenheiten“. Wir werden in diese so hineinsozialisiert, dass sie uns in der Regel gar nicht bewusst sind. Und die Institutionen weisen uns dabei Rollen zu oder sie bieten uns zumindest manchmal eine bestimmte Auswahl von jeweils möglichen Rollen an, aus denen wir wählen können. Die Institutionen üben außerdem – zumeist unsichtbar – Druck aus, dass wir diese Rollen auch übernehmen. Und einen Großteil der an uns herangetragenen Rollen übernehmen wir tatsächlich. Denn klar definierte Rollen entlasten uns auch von permanenten eigenen Entscheidungen, und sie geben uns und unseren Mitmenschen eine gewisse Sicherheit, Verlässlichkeit und „Lesbarkeit“ im gegenseitigen Handeln. Wir als Menschen unterhalten also ein produktives „Tauschverhältnis“ zu den Institutionen. Noch prägnanter formuliert: Sich gänzlich von allen Rollen und institutionellen Vorgaben freizumachen, kann, soll und wird auch dem größten „Individualisten“ nicht gelingen – es sei denn auf Kosten der völligen gesellschaftlichen Isolation (und des allmählichen Verrücktwerdens). Wer eine Ahnung davon bekommen möchte, welche normalerweise unsichtbar bleibenden Rollenzwänge in der Gesellschaft um uns herum existieren und was passiert, wenn man sich als einzelner und als Gruppe auch nur einigen davon bewusst radikal zu verweigern versucht, kann sich den Film „Idioten“ von Lars von Trier anschauen und wird mit Sicherheit verstört sein.
Allerdings ist das Rollenrepertoire, das uns heutige Gesellschaften anbieten, in der Tat ungleich größer, als es jemals vorher gewesen ist. Anders als für die allermeisten Menschen im Mittelalter und in der frühen Industriegesellschaft sehen sich Menschen heute in immer mehr Bereichen vor die Wahl gestellt, welche Rollen sie annehmen und spielen wollen, und welche nicht.
Der Soziologe Elmar Koenen diagnostizierte dabei schon in den 90er Jahren eine Ambivalenz, denn viele Menschen fühlen sich von den permanenten individuellen Wahlmöglichkeiten partiell auch überfordert und suchen seiner Meinung nach gerade wieder vermehrt Sicherheit in den Institutionen: „Aber wohin kehren sie nun zurück, die Individuen? Sicher nicht in Institutionen, die ihnen ,entgegenkommenʻ. Es sind keine vertrauten Verhältnisse, auf die sie ,treffenʻ. Stattdessen finden sie sich auf Ämtern und Verwaltungen wieder, mit Bestimmungen und Vorschriften konfrontiert, deren stumme Gewalt sie zu einer Vernunft bringt, die sie nicht als die ihre erfahren, sondern zur blinden Einsicht in eine sinnarme Notwendigkeit. In solchen Momenten durchschaut das Individuum das oben erwähnte Tauschverhältnis, das es unfreiwillig zu den Institutionen unterhält, und löst es für sich in ein Schema rationaler Wahl auf, das nur aus zwei einfachen Fragen besteht: Wieviel Erwartungssicherheit, wieviel an fester Orientierung, Gewißheitsempfinden und Entlastung brauche ich? Wieviel intellektuelle Skepsis, Kritikfähigkeit, Dauerreflexion und Veränderbarkeitsgefühl kann ich mir leisten? Solche Fragen muß schon seit langem jeder für sich beantworten; das Neue aber ist, daß sie sich heute virtuell [d. h. ,der Möglichkeit nachʻ] für jede(n) stellen.“ (Koenen 1994, S. 459)
Ronald Hitzler beschreibt die Lage moderner Individuen im selben Text als Zwang zur „Bastelbiographie“:
„Dieses banale Individuum hat irgendwo auf dem Weg in die Moderne seinen institutionellen Faden verloren. Es bastelt, ,irgendwieʻ, relativ führungslos und weit unterhalb allen theoretischen Systematisierungsbedarfs, seine Existenz zusammen, privat sozusagen. Und eben dieses banale Individuum meldet sich, für manchen traditionalen Analytiker der Moderne überraschend, gegenwärtig überall dort zu Wort, wo bislang Ordnung zu herrschen und mithin die Öffentlichkeit beruhigt schien, dort also, wo ,die Dingeʻ ihren gewohnten, ihren institutionellen Gang gingen, vorzugsweise mithin dort, wo entpolitisierte Politikrituale zelebriert werden. Sein Problem ist kurzatmig, pragmatisch und – hochselektiv – in der ,privatistischenʻ Version: ,Wie komme ich hierher? und: Wohin soll ich mich wenden?ʻ, in der ,politisiertenʻ Version: ,Wie komme ich hier raus? und: Wo gerate ich dann rein?ʻ“
Hitzler sieht eine zunehmende Skepsis der Menschen gegenüber den Institutionen – auch den politischen – und die zunehmende Fähigkeit, sich von diesen zu distanzieren:
„Kann das Individuum (und sei es nur für einen historischen Moment) heraustreten aus dem (selbst miterbauten und -erhaltenen) Gehäuse der institutionellen Hörigkeit, kann es die eingelebten Verläßlichkeiten (für einen Augenblick) verlassen — und sie damit aber auch schon desavouieren? Es kann es — und es geschieht offenbar auch. Ob es geschehen sollte, ist eine Frage des politischen Temperaments, denn: Was dabei herauskommt, wenn Individuen sich gegen die institutionell geordneten Bahnen bewegen, ist eine prinzipiell offene Frage.“ (Hitzler 1994, S. 461 und 46)
Seite 25-26, Kompakt Zeitung Nr. 239