Ich spreche Deutsch:
Merkeln oder scholzen?
Dieter Mengwasser
Wir alle, auch die Angehörigen der jeweiligen Opposition, werden zugeben, dass das Amt einer Bundeskanzlerin oder eines Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland nicht einfach ist. Vielfältig können die Probleme sein, die zu lösen sind. Dabei, so scheint es, hat sich so eine Art Algorithmus herausgebildet:
• ein Problem taucht auf und wird auf unteren Ebenen oder in den Medien benannt;
• das Problem wird ganz oben zur Kenntnis genommen, ohne aber eine Stellungnahme dazu abzugeben;
• es wird abgewartet, wie sich die Situation um das Problem herum entwickelt;
• letztlich, wenn alle Welt eine Stellungnahme von ganz oben für unausweichlich hält, wird endlich etwas zu dem Problem gesagt.
So war es bei der Bundeskanzlerin Frau Merkel, und so ist es offensichtlich auch beim jetzigen Bundeskanzler Herrn Scholz. Kein Wunder, dass sich das Wort „Merkeln“ herausbildete: etwas stillschweigend zur Kenntnis nehmen, dann nichts tun, abwarten, keine Entscheidung treffen und keine Äußerung von sich geben. Die Reaktion auf ein Problem kann bei diesem Ablauf ziemlich lange dauern. Bei der vom Langenscheidt-Verlag organisierten Wahl des Jugendwortes im Jahre 2015 stand auch „Merkeln“ auf der Liste und kam hinter „Snombie“ (Zusammensetzung aus Smartphone und Zombie: Personen, die beim Gehen immer aufs Handy schauen und dadurch nichts mehr mitbekommen) auf Platz 2. Frau Merkel ist jetzt Geschichte, ihren Platz hat nun Bundeskanzler Scholz inne. Seine Strategie zur Lösung von Problemen scheint ähnlich zu der von Frau Merkel zu sein, deswegen wird auch mitunter von „Scholzen“ gesprochen.
Die Frage ist nun bei Menschen, die sich für die deutsche Sprache interessieren, ob diese Wörter „merkeln“ und „scholzen“ Eingang in sprachliche Nachschlagewerke, z. B. den Duden, finden werden. In der letzten Dudenausgabe, 28. Auflage von 2020, finden Sie das Stichwort „Merkel“ als Eigenname und den Vermerk, dass sie die 8. Person in diesem Amt ist, aber nichts von „merkeln“. Vielleicht hätte sie vor rund 250 Jahren gelebt haben müssen und von adliger Herkunft gewesen sein sollen?
Wie schützen Sie sich und Ihren Balkon bei heißen Sommertagen vor der Sonne? Wahrscheinlich mit einer Markise. Im alten Frankreich gab es Adelige, die trugen den Titel „Marquis“. Dies soll dem deutschen „Markgraf“ entsprechen. In jeder Sprache ist es so, dass Dinge, die nicht mehr vorhanden sind, sich auch aus dem Sprachgebrauch verlieren, und daher weiß wohl kaum jemand von uns, was ein Markgraf ist. Ursprünglich soll ein Markgraf für die militärische Sicherung einer Grenzregion verantwortlich gewesen sein. Und in Frankreich nannten sich diese hochgestellten Persönlichkeiten mit vererbbarem Adelstitel Marquis. Die Frau des Herrn Marquis ist eine Marquise. Offiziere der Armee waren während der Feldzüge in Zelten untergebracht, und zum Schutz vor der Sonne wurde ihnen noch ein Vorzelt oder Überzelt aufgebaut, das – vielleicht auch zum Scherz? – Marquise genannt wurde. Daraus entstand unser deutsches Wort „Markise“.
Kommen wir nun zu adligen Personen, die auch sprachlich Spuren hinterlassen haben. Am 2. Juni 1740 wurde in Paris Donatien Alphonse Francois Marquis de Sade geboren. Er scheint zu den schwererziehbaren Kindern gehört zu haben. Als er 4 Jahre alt war, sollte er bei seinem 8-jährigen Cousin die Sommerferien verbringen. Es vergingen nur wenige Tage, da traf von der Verwandtschaft ein Brief ein: „Holt so schnell wie möglich euren Jungen zurück, mit dem ist kein Auskommen. Er tyrannisiert unser Kind.“ Bereits mit 14 Jahren trat der junge Aristokrat in eine Militärschule ein und nahm auch an Kämpfen des 7-jährigen Kriegs (1756 bis 1763) gegen Preußen teil. Sein Mut wurde gelobt, aber er wurde auch wegen seiner Ausschweifungen bekannt. Als Hauptmann verließ er 1763 das Militär und stürzte sich in das Zivilleben, besonders aber auf das weibliche Geschlecht. Und dies in einer Weise, dass er häufig in Kontakt mit der Polizei und den Strafgerichten geriet. Er heiratet eine vermögende Frau des Adels, aber mit seiner Schwägerin, der 19-jährigen Schwester seiner Ehefrau, reist er unter falschem Namen durch Italien. Vergewaltigungen, Skandale, Ausschweifungen – so sieht sein bisheriger Lebenslauf aus. Mit Kumpanen veranstaltet er eine Feier, zu der er mehrere leichte Mädchen eingeladen hat. Seinen Diener hatte er zuvor beauftragt, Kekse mit aphrodisierenden Zusätzen zu backen, um die jungen Damen von vornherein sexuell gefügig zu machen. Eines der Mädchen stirbt, offensichtlich wegen der Überdosis dieser Stimulierungsmittel. Er wird angeklagt, zu einer hohen Gefängnisstrafe verurteilt, flieht, wird wieder aufgegriffen und erneut eingesperrt. In seiner Zelle beginnt er, Theaterstücke und Romane zu schreiben. Einige Jahre verbringt er auch in der Bastille in Paris, mit deren Erstürmung am 14. Juli 1789 die französische Revolution beginnt. Wie durch ein Wunder und aufgrund von bürokratischen Verwechslungen in den Wirren der Revolutionsjahre bleibt er als Angehöriger der verhassten Noblesse von der Guillotine verschont. Stattdessen wird er in eine Irrenanstalt eingewiesen, wo er seine schriftstellerische Tätigkeit fortsetzt.
Das, was er an Schriften produziert, findet nur teilweise den Beifall des Publikums: Erotik, sexuelle Gewalt, Pornografie. In „Die Philosophie im Boudoir“ (Boudoir = Zimmer für Frauen) wird die 14-jährige Eugenie in Sachen der körperlichen Liebe durch mehrere Lehrmeister unterrichtet. Das Buch könnte als Anleitung für Gruppensex gelten, so detailliert werden Stellungen beschrieben; andererseits legt der Autor hierin seine philosophischen Ansichten wortgewandt dar: volle Freiheit zur Befriedigung der erotischen Wünsche, Homosexualität und Inzest als natürlichste Sachen der Welt, Mord ist zulässig, Gott existiert nicht, u. a. Es versteht sich, dass seine Ansichten und die ungezügelten Schilderungen des Erotischen, verbunden mit Beschreibungen von Grausamkeiten, argwöhnisch von staatlichen und kirchlichen Institutionen beobachtet werden, und das führte zu Beschlagnahmungen und Verboten seiner Bücher. 1814, am 1. Dezember, ist der Marquis gestorben. Von den 74 Lebensjahren hat er 30 in Unfreiheit verbracht.
Sprachlich hat er uns hinterlassen: Sadismus – Lust am Quälen und am Zufügen von Grausamkeiten; abnorme sexuelle Triebbefriedigung durch Zufügung von körperlichen oder psychischen Quälereien gegenüber dem Partner. Sadist – die Person, die Sadismus ausübt. sadistisch – den Sadismus betreffend.
‚Sadomaso‘ haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, sicherlich schon gehört. Die Herkunft des ersten Teils dieses Wortes haben wir oben schon mit dem Marquis de Sade erläutert. ‚maso’ ist abgeleitet von ‚Masochismus‘. Namensgeber ist auch hier ein Adliger, nämlich Leopold Ritter von Sacher-Masoch (1836 in Lemberg, damals Kaisertum Österreich, geboren, 1895 in Lindheim, Hessen, gestorben). Gemeint ist mit Masochismus die geschlechtliche Erregung und Befriedigung durch Erleiden von Misshandlungen und von körperlichen Schmerzen.
Wörter, die von Namen von Personen abgeleitet sind, gibt es noch viele andere. Wenn Sie mögen, liebe Leserinnen und Leser, werden wir in späteren Folgen unserer Kolumne darauf wieder zurückkommen.
Buch-Tipp:
Die Beiträge von Dieter Mengwasser sind als Buch unter dem Titel „Ich spreche Deutsch! – Sprachbetrachtungen eines Sprachkundigen“ erhältlich. Die Bücher können im KOMPAKT Medienzentrum erworben oder in unserem Onlineshop bestellt werden.
Seite 36, Kompakt Zeitung Nr. 239