„Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andere Welt?“
Soziales Rollendilemma in Bertolt Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“
In Bertolt Brechts Lehrstück bringt sich eine junge Frau (Shen Te), die in einer kapitalistischen, von Konkurrenz geprägten Gesellschaft moralisch gut handeln will, genau durch dieses moralische Handeln in eine finanzielle Notlage. Sie legt sich deshalb ein skrupelloses Alter Ego (zweites Ich) zu.
Der hier veröffentlichte Text ist ein Auszug aus den Konzepten von Frau Prof. Dr. Renate Girmes und ihrem Team von „Omnimundi“. Es geht darum, sich Aufgaben zu stellen – egal, ob persönliche oder berufliche – und diese zu bearbeiten. Allen auf der Welt stellen sich grundlegend 9 Aufgaben. Unter der Internetadresse omnimundi.de findet man weitere Inhalte zum Verständnis über nachhaltige Bildung.
Brechts Theaterstück „Der gute Mensch von Sezuan“ entstand 1938 bis 1940 unter Mitarbeit von Ruth Berlau und Margarete Steffin. Das Drama spielt in der chinesischen Provinz Sezuan (Sichuan), ist jedoch nach einer ausdrücklichen Vorbemerkung Brechts als Parabel zu verstehen. Sezuan steht also stellvertretend für alle Orte und Staaten, in denen Menschen von anderen Menschen kapitalistisch ausgebeutet werden.
Das Theaterstück fragt nach den Möglichkeiten der Menschen, gut zu handeln. Brecht erprobt in dem Stück, ob es unter den Bedingungen des Kapitalismus überhaupt wirklich gute Menschen geben kann. Dabei stellt er für uns verschiedene Menschenbilder einander gegenüber.
Da ist einerseits die ehemalige Prostituierte Shen Te, die von den Göttern ein kleines Vermögen als Geschenk erhält und deshalb schwört, von nun an nur noch moralisch gut zu handeln. Doch durch allzu große Hilfsbereitschaft, die von einigen Menschen schamlos ausgenutzt wird, gerät sie in so große finanzielle Not, dass ihr als einziger Ausweg die Erfindung eines männlichen Alter Ego erscheint. Sie verkleidet sich als Mann, setzt sich eine Maske auf und nennt sich Shui Ta. Als dieser Shui Ta baut sie mit skrupellos-ausbeuterischen Methoden eine florierende Tabakfabrik auf, setzt Menschen unter Druck, manipuliert sie, um sich selber Möglichkeiten zu verschaffen. Während sie als Shen Te Menschen mit Mitleid begegnet und diese als Opfer schlechter Umstände sieht, sieht sie als Shui Ta Menschen als durch Einflüsse lenkbare Wesen an und nutzt sie aus. Umgekehrt handeln die Menschen, die die moralisch gut handeln wollende, mitleidige Shen Te ausnutzen, so wie Tiere, deren Instinkt ihnen befiehlt, ihre Bedürfnisse um jeden Preis zu decken.
Ob es in dem Stück, wie der Titel behauptet, wirklich einen guten Menschen gibt, bleibt eine Frage, die so offen ist wie der Schluss des Stücks:
„Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen. […]
Soll es ein anderer Mensch sein? Oder eine andere Welt?
Vielleicht nur andere Götter? Oder keine? […]
Sie selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!
Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“
Brecht richtet mit dem Stück an uns als Leser:innen bzw. Zuschauer:innen zugleich die Frage, wie eine Welt einzurichten wäre, damit man in ihr tatsächlich als guter Mensch leben kann – ohne verlogen ein ‚zweites Ich‘ ausbilden zu müssen. Auf Youtube kann man „Der gute Mensch von Sezuan“ in zwei Versionen in vollständiger Fassung sehen:
– in einer Bühnenversion – als Videomitschnitt einer Inszenierung von 1988 am Nationaltheater Weimar
– als Fernsehspiel-Version vom SDR 1966
Eine zusammenfassende Inhaltsangabe des Stückes und Hinweise zu seinem Entstehungskontext finden sich auf Wikipedia.
Seite 26-27, Kompakt Zeitung Nr. 239