Der Berg bebt
Rudi Bartlitz
Magdeburgs neue Bob-Anschub-Anlage auf dem Sportcampus hat zwei Jahre nach ihrer Einweihung den ersten großen Praxistest bestanden. Premiere für einen Sachsen-Anhalt-Schlitten im Weltcup?
Wer heute alte Schwarz-Weiß-Streifen aus dem Bobfahrer-Milieu der fünfziger Jahre anschaut, bei dem stellen sich unwillkürlich Erinnerungen an das berühmte Michelin-Männchen ein. Plump und ziemlich dickbäuchig kamen die Sportler, die sich mit ihren ruckeligen Metallkisten mutig ins Tal stürzten, einst daher. Eben wie die Werbeträger für den bekannten französischen Reifenhersteller. Um richtig Geschwindigkeit zu erreichen und bei ihrer Schussfahrt ins Glück den schnellsten Weg nach unten einzuschlagen, zählte damals fast nur eines: reine, pure Masse. Da glaubten sie an die trügerische Formel, wonach Geschwindigkeit zuallererst, wenn nicht sogar ausschließlich, von der (Gewichts)Masse der Schlitteninsassen abhängt.
Wer heute Bobsportlern bei ihrer Arbeit zuschaut, fühlt sich in ein anderes Universum versetzt. Selbst hinter den Insassen des legendären „Cool Runnings“-Schlittens der Jamaikaner muss sich keiner von ihnen, rein vom Körperbau, verstecken. Austrainiert bis ins Letzte. Strotzende Muskelmasse. Athletische Körper, zuweilen wie von einem Bildhauer modelliert. Bei Männern wie Frauen. Wer es mit eigenen Augen betrachten wollte, hatte Ende September dazu Gelegenheit. Und zwar nicht auf einer Bahn irgendwo in den Alpen oder im Thüringer Wald. Nein, in Magdeburg. Auf der vor zwei Jahren neben der Fußball-Arena errichteten neuen Anschubbahn.
Wenn sich die großgewachsenen, schwergewichtigen Anschieber auf der abschüssigen ziegelroten Tartanbahn in Bewegung setzen, lässt das Stakkato ihrer Beine den Anschubberg regelrecht erzittern. Mit etwa 20 explosiven Schritten treiben sie einen auf Schienen laufenden Wagen mit allerlei Gestängen dran, der den Bob simulieren soll, auf maximale Geschwindigkeit. Eine mitfahrende Kamera zeichnet akribisch alles auf – von Körperhaltung und Körperspannung bis zum Aufsetzen und zur Abdruckkraft der Füße. Zwischen 25 und 45 Meter misst die Strecke. Das Gewicht des „Bobs“ kann dabei zwischen 95 und 160 Kilo variiert werden.
Bis auf wenige Stars – die entweder Verletzungen auskurieren oder einen anderen Saisonaufbau haben, wie Überflieger Francesco Friedrich – war alles gekommen, was in der deutschen Bobszene Rang und Namen hat. Offizieller Anschub-Test des Verbandes nannte sich die Konkurrenz. Neben Oberhof eine von nur zwei Qualifikationen fürs deutsche Nationalteam. „Die hier gemessenen Zeiten geben uns wichtige Aufschlüsse, mit wem wir im vorolympischen Jahr rechnen können und wer für die Weltcups infrage kommt“, erläuterte Bundestrainer Rene Spieß im Kompakt-Gespräch. „Es geht quasi um ein internes Ranking. Das gilt für die Zweier- und Viererschlitten ebenso wie für den Monobob der Frauen.“ Immerhin richtet Deutschland in dieser Saison in Winterberg die WM aus.
Für Magdeburg ging es um noch einiges mehr. Erstmals fand auf der 140 Meter langen Anlage ein ernsthafter Wettbewerb statt. Musste sie beweisen, dass ihr Bau, der seinerzeit immerhin 600.000 Euro kostete, alles andere als Spleen oder Hobby bobvernarrter Zeitgenossen war. „Die Anlage ist super“, zollte Spieß Lob. „Für die Weiterentwicklung unserer Sportart, und da insbesondere der Anschieber, ist das von enormer Bedeutung, gerade für den norddeutschen Raum. Wir kommen gern wieder.“
Zumal Magdeburg gleich zwei unterschiedliche Anlaufprofile bietet. Eines mit geringerer Neigung, so wie es die Bahn in Oberhof aufweist. Auf der anderen „schiefen Ebene“ geht es steiler bergab, wie auf der Olympiabahn von Peking oder der von 2026 in Cortina. Für den Bundestrainer also ein zusätzliches Plus der hiesigen Strecke. Es kann variiert werden. Was Spieß nicht erwähnte, jedoch unbedingt gesagt werden sollte: Gerade im Bob nimmt der zuletzt vielgescholtene deutsche Hochleistungssport noch eine absolute Top-Position in der Welt ein. Dafür stehen Namen wie die der Piloten Francesco Friedrich und Johannes Lochner. Und mit Anschieber Torsten Margis kommt ein vierfacher Olympiasieger aus Halle. Chapeau.
Eine Bob-Anschubbahn mitten in der Börde? Weit und breit kein Berg, was soll das denn nun wieder?, hatten einst sportferne Zeitgenossen gefragt. Haben wir keine anderen Sorgen? Zur Erklärung: Seit 2011 widmet sich der in der Landeshauptstadt ansässige Mitteldeutsche Sportclub (MSC) der Ausbildung von Bob-Sportlern. Genauer gesagt: von Anschiebern. Jene Männer also, die, mit purer Kraft und im Schritt-Stakkato, die schnellen Stahlkolosse beschleunigen, die im Winter mit bis zu 140 Stundenkilometern durch die Eisrinnen dieser Welt zu Tal jagen. Wichtig zu wissen: Die Rolle der Anschieber, die lange Zeit als die Schattenmänner der Eisrinne galten, ist zuletzt immer wichtiger geworden. Ihr dynamischer Antritt entscheidet oft über Wohl und Wehe eines Schlittens, denn das Material der führenden Nationen befindet sich inzwischen weltweit auf einem ähnlich guten Level.
Neun deutsche Bob-Bundeskader-Athleten trainieren inzwischen am Olympiastützpunkt (OSP) Sachsen-Anhalt. „Für ein flaches Land eine ganz erhebliche Zahl“, freut sich Trainingswissenschaftler Guido Meyer vom OSP. Eine Zahl übrigens, auf die einstige Magdeburger Vorzeigesportarten wie Leichtathletik oder Rudern ein wenig neidisch schauen. „Es zeigt sich, dass wir vor einem Dutzend Jahren mit der Etablierung des Bobsports wohl doch eine gute und richtige Entscheidung getroffen haben“, zeigt sich MSC-Präsident Thomas Schneider zufrieden. „Selbst wenn sie damals für den einen oder anderen umstritten war.“
Mehr noch: Mit dem für den RSC Ilsenburg startenden Piloten Nico Semmler, zuletzt immerhin Junioren-Weltmeister, und Anschiebern des MSC könnte in diesem Winter, so Schneider, „vielleicht sogar erstmals ein eigener Sachsen-Anhalt-Bob an den Ablauf gehen.“ Es winkt immerhin ein Startplatz im Weltcup. Semmer durchaus selbstbewusst: „Ich denke schon, wir können da vorn mitspielen.“
Seite 32, Kompakt Zeitung Nr. 242