Überlebenswichtige Hoffnung
Den größten Teil des Tages sitzt Vsevolod Pozdejev am Flügel und begleitet das Training und die Proben des Magdeburger Ballettensembles. Der aus Estland stammende Pianist arbeitet seit 2020 am Theater Magdeburg und stellt sich dem Magdeburger Publikum nun erstmals als Komponist vor. Mit der Vertonung des Märchens „Das letzte Wunder“ von Natalja Kljutscharjowa realisiert er einen Herzenswunsch – Solidarität zeigen und die Stimme erheben gegen den Angriffskrieg auf die Ukraine. Seine Uraufführung für Schauspiel, Streichquartett und Klavier zu vier Händen ist am Donnerstag, 19. Oktober, 20 Uhr, im Schauspielhaus zu erleben.
Mit der russischen Autorin Natalia Kljutscharjowa verbindet Vsevolod Pozdejev eine jahrelange Freundschaft, die via Facebook begann. Kljutscharjowa protestierte von Anfang an auf pazifistischen Kundgebungen gegen den Angriffskrieg auf die Ukraine. Pozdejev, der alle ihre Werke gelesen hat, schätzt die hellsichtigen Texte der Freundin, die viele Ereignisse vorauszusehen scheinen. „Das letzte Wunder“, eine Geschichte voll düsterer Prophetie, gepaart mit überlebenswichtiger Hoffnung, entstand als Reaktion auf die Krim-Annexion 2014 und nimmt den „großen Krieg“ vorweg. Bei aller Dramatik und Ernsthaftigkeit aber klängen die Texte immer heiter und zeigten, dass die Autorin sowohl ihre Leserschaft als auch die Figuren der Geschichten sehr liebe, schwärmt Pozdejev, der Texte immer auch durch die Brille eines Musikers, eines Komponisten liest und den Tönen im Text nachspürt.
Über Kljutscharjowa entstand auch der Kontakt zu Ganna-Maria Braungardt, eine Instanz für Übersetzungen russischer gegenwärtiger Literatur. Braungardt übersetzte auf Wunsch des Komponisten „Das letzte Wunder“ eigens für die Aufführung in Magdeburg. Den Schauspielpart übernimmt Sophia Vogel aus dem Magdeburger Ensemble. Es musizieren ein Streichquartett der Magdeburgischen Philharmonie mit Ingo Fritz, Marcel Körner, Lorenz Swyngedouw und Yoichi Yamashita sowie Eva Laas und der Komponist selbst am Klavier.
Die renommierte Übersetzerin gibt im ersten Teil des Abends Einblick in die Szene der russischsprachigen kritischen Gegenwartsliteratur. Braungardt arbeitet seit 1991 als freiberufliche literarische Übersetzerin. Sie hat unter anderem die Werke von Ljudmilla Ulitzkaja ins Deutsche übertragen – einer Autorin, die für ihre pazifistische und systemkritische Haltung immer wieder Repressionen ausgesetzt ist und deren Bücher als frühe Warnzeichen verstanden werden können.
Die Schriftstellerin Natalja Kljutscharjowa, bekannt geworden durch ihre Werke „Endstation Russland“ und „Dummendorf“ veröffentlichte zuletzt das „Tagebuch vom Ende der Welt“. Darin gewährt sie einen mutigen Einblick in den Alltag in Russland seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine. Sie wird am Abend der Uraufführung anwesend sein, ihre Werke kommentieren und Fragen aus dem Publikum beantworten, teilt das Theater mit.
Seite 12, Kompakt Zeitung Nr. 242