Bindeglied der Geschichte
Michael Ronshausen
Ausflug in die regionale Eisenbahnhistorie (Teil 3)
Den Eisenbahnplanern stellte sich zu Beginn ein gewaltiges Problem in den Weg, das aus festungsartigem Mauerwerk bestand. Im Zusammenhang mit seiner militärischen Bedeutung verstanden die Verantwortlichen keinen Spaß. Selbst wer keinen „Preußischen Rock“ trug, trug stattdessen die Erinnerung an die Universalkatastrophe von 1631 in sich. Und tatsächlich war der letzte Sturm auf die Magdeburger Festung zu Beginn des Eisenbahnzeitalters erst 35 Jahre her, auch wenn die Eroberung der eigentlich uneinnehmbaren Festung eine Übernahme war, kaum ein Schuss fiel, niemand starb, und auch keine Sachschäden zu beklagen waren.
Mehrere Breschen in die tief gestaffelten Verteidigungsanlagen zu schlagen, wollte gut überlegt sein. Unumgänglich für die Anbindung an das Schienennetz waren erhebliche Um- und Ausbauten in einigen Bereichen der Festungsanlage. Der Kompromiss sah vor, die Wallanlagen keinesfalls weiter zu durchlöchern, sondern den Schienenweg stadtseitig, unmittelbar an die Elbe zu verlegen. Hier entstanden im Norden wie im Süden hintereinander gestaffelte Toranlagen, die einem potenziellen Gegner wenig Angriffsfläche boten und gut zu verteidigen waren. Bauliche Reste des historischen Leipziger Eisenbahntores befinden sich bis heute unterhalb des Doms, direkt an der Elbe. Der erhalten gebliebene Teil des Baukörpers wurde jüngst in einen Neubau integriert. Auch im Norden, nahe der Lukasklause, befinden sich noch Reste des historischen Eisenbahndurchlasses.
Obwohl spätestens um 1870 auch das Schienennetz in Magdeburg neu strukturiert wurde, blieben die elbseitigen Anlagen aus der Frühzeit des Eisenbahnverkehrs noch lange erhalten. Diese Zeit endete erst nach rund 150 Jahren, kurz nach der Wende von 1989. Als Personenbahnhof ausgedient hatte der Elbbahnhof damals schon lange. Für Fahrgäste stand ab Sommer 1873 der neue Central- bzw. Hauptbahnhof bereit, was doch zu einer „Durchlöcherung“ der Festungsanlagen führte. Auch im zwischenzeitlich neu entstandenen wilhelminischen Kaiserreich wollte man auf die Vorzüge einer verteidigungsfähigen Festung nicht verzichten. So kam es zu einem weiteren, teilweise aufwendigen Umbau einiger Bereiche der städtischen Umwallung. Erst im frühen 20. Jahrhundert – ab dem 23. Januar 1900 – endete Magdeburgs Zeit als Festungsstadt, als mittels preußischer Kabinettsorder der Festungsstatus vollständig aufgehoben wurde. Große Teile der Wallanlagen wurden aufgegeben und abgetragen, die weitläufigen Areale oft anderen Zwecken zugeführt.
Seit etlichen Jahren bemühen sich viele Magdeburgerinnen und Magdeburger, Reste der früheren Festungsanlagen dem Vergessen zu entreißen. Teilweise geschieht das mit erheblichem Erfolg, wie die Rettung des jahrzehntelang verfallenen Ravelins II zeigt. Weniger erfolgreich sind hingegen Stadt und Bahn, wenn es um den Erhalt eines festungsarchitektonischen Kleinods geht. Es steht – erstaunlicherweise – in keiner Denkmalliste und wird in der einschlägigen Literatur gerne übersehen. Als mehr oder weniger zufällig erhalten gebliebenes Zeugnis des einstmaligen Zusammenspiels zwischen der Magdeburger Festung und der Frühzeit der Eisenbahn ist es trotz seines ruinösen Charakters von sehenswerter Bedeutung. Als in den Jahren zwischen 1869 und 1872 auf der neu erbauten Linienführung der Berliner Bahnlinie zum neuen Hauptbahnhof die Herrenkrug-Eisenbahnbrücke errichtet wurde, musste auch diese Elbquerung mit einem festungsartigen Brückenkopf gesichert werden.
Nach dem Ende der Festungszeit blieb der gelbe Klinkerbau am westlichen Elbufer längere Zeit in Betrieb. Immerhin stellte der Flussübergang eine der beiden großen mitteldeutschen Eisenbahnverbindungen in und aus Richtung Berlin dar. Als sicher gilt, dass in der kleinen Anlage in beiden Weltkriegen Brückenwachen eingerichtet wurden. Auch als die historische Brücke nach etwas mehr als 100 Jahren wenige Meter weiter nördlich neu errichtet wurde, blieb das Gebäude erhalten. Heute steht es zwischen modernen Gleisen und vor sich hin rostenden Enden der alten Schienen. Denkmalpflegerische Aufmerksamkeit erhält das Gebäude nicht – eher ist es eine Müllkippe und ein Tummelplatz für Schmierfinken. Den historischen Wehrbau wieder einer sinnvollen Verwendung zuzuführen und als gemeinsames Bindeglied der Magdeburger Eisenbahn- und Festungsgeschichte erlebbar zu machen, wäre wünschenswert.
Seite 23, Kompakt Zeitung Nr. 242