Magdeburger Gesichter:
Mit Unruh „kopfüber in die Politik”

Karlheinz Kärgling

Die Nacht vom 9. zum 10. November 1848, in der die „halbe Revolution der Deutschen“ mit einer „ganzen Konterrevolution“ beendet wurde (Karl Marx), verbrachte Victor von Unruh, der Abgeordnete aus dem Wahlkreis Magdeburg und Präsident der Preußischen National-Versammlung, in den Tagungsräumen des Schauspielhauses am Berliner Gendarmenmarkt. Friedrich Wilhelm IV. hatte endgültig zum Staatsstreich ausgeholt und dem vor Tagen ernannten Ministerpräsidenten Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg die „Zähmung Berlins“ befohlen. Mit der großen Zahl von Deputationen, die in den Nachtstunden im Schauspielhaus eintrafen und die Verfassunggebende Versammlung zur Verteidigung der Revolution und der demokratischen Rechte drängten, verdichteten sich die Nachrichten vom Halleschen Tor her über den Einmarsch Tausender Soldaten unter dem Kommando des Generals Friedrich von Wrangel. Der General übernahm ohne nennenswerten Widerstand die Kontrolle in der Stadt, erklärte die Bürgerwehr für überflüssig und forderte ultimativ die Räumung des Tagungsortes der parlamentarischen Versammlung.

Schon in der Woche zuvor hatte Unruh in persönlichen Gesprächen mit dem neuen Regierungschef das Gefühl, die Kamarilla um den König plane die Verlegung der Versammlung nach Brandenburg und insgeheim deren Auflösung. In den Morgenstunden des 10. November erstattete Unruh dem Plenum ausführlich Bericht über die Ereignisse der Nacht, hatte die kritische Lage des Staates erörtert und die seiner Ansicht nach anzuwendenden Mittel des passiven Widerstands erläutert. Er war der Überzeugung, wenn alle Wahlkreise einschließlich der Presse und der Assoziationen gegen das Kabinett Brandenburg/Manteuffel protestierten, gäbe es über den Erfolg keinen Zweifel. Gewalt und Bürgerkrieg lehnte er ab.

Nachdem das Militär das Schauspielhaus umstellt und besetzt hatte, verhinderten die Bajonette die Fortsetzung der Aussprache im Kölnischen Rathaus. Tags darauf wurde die Bürgerwehr aufgelöst, was in der Nacht zum 12. November beinahe zur zweiten Revolution in Berlin geführt hätte. Der Belagerungszustand und ab 14. November das Kriegsrecht zwangen Unruh zum Ausweichen in neue Behelfslokale, bis am 15. November im Hotel „Mielentz“ die Mehrheit des Parlaments eine Erklärung zur „Steuerverweigerung“ annahm. Diese Entscheidung zum „passiven Widerstand“ gilt als „Schwanengesang“ der Nationalversammlung, obwohl der zweite Akt des Trauerspiels Ende November in Brandenburg folgen sollte. Friedrich Wilhelm IV. setzte dem jedoch mit einem Erlass zur Auflösung der Versammlung am 5. Dezember ein Ende und oktroyierte dem Volk die Verfassung nach seinem Gusto.

Für Unruh selbst, der im politischen Berlin als linksliberale Symbolfigur wahrgenommen wurde, blieben die Ereignisse nicht ohne Nachspiel. Zunächst glich sein Empfang in Magdeburg einem Triumph, und bei den im Januar/Februar 1849 anberaumten Wahlen zur Zweiten Kammer des Preußischen Landtags gewann er als konsequenter Liberaler (ungeachtet der starken Einflussnahme konservativer Kreise) mit deutlicher Mehrheit das Mandat. Als aber die Stadtverordneten Magdeburgs Unruh 1850 zu ihrem Vorsteher wählten und dem König die Berufung zum Ersten Bürgermeister vorschlugen, lehnte dieser seinen „Gegenkönig“ des Jahres ’48 brüsk ab, verweigerte ihm fernerhin die Anstellung im Staatsdienst und sorgte dafür, dass ihm auch die Unternehmensgründung in Preußen unmöglich gemacht wurde.

Dennoch ernannte die Stadt Unruh 1851 zum Mitglied eines Gremiums zur Umstellung der Straßenbeleuchtung von Öl auf Gas. Bald jedoch verlegte er seine Aktivitäten ins anhaltische Dessau. Mit dem Bankier Louis Nulandt und mit dem Bürgermeister von Mühlheim, dem einstigen Kollegen im preußischen Abgeordnetenhaus Justus Wilhelm Oechelhaeuser, gründete er 1855 die Deutsche Continental-Gasgesellschaft, ein Unternehmen, das international agierte. So kehrte er damit an den Beginn seiner beruflichen Laufbahn zurück, mit der er die militärische Familientradition verlassen hatte.

Als Sohn des Generalmajors der Kavallerie Friedrich Wilhelm von Unruh und seiner Frau Karoline Freiin von Buttlar, geboren am 28. März 1806 in Tilsit, hatte er nach dem Besuch der Gymnasien in Neiße und Königsberg eine Lehre als Geodät absolviert und seitdem sein Brot selbst verdient, wie er rückblickend feststellen konnte. Ein Vorrecht des Standes kannte er nicht, und Kastengeist missbilligte er. Auch während des Studiums in Berlin blieb der junge Mann auf sich gestellt und wechselte aus Kostengründen von der Universität an die Bauakademie. Das Examen zum Baumeister legte er 1828 bei Karl Friedrich Schinkel mit Bestnoten ab und arbeitete anschließend als Ingenieur im Staatsdienst in Breslau. In dieser Zeit heiratete Unruh nach der Scheidung von Ernestine von Risselmann die 18-jährige Tochter Marie des preußischen Justizrates Gottfried Wilhelm Clement aus Frankfurt/Oder.

Er wurde 1835 Leiter der Vorarbeiten für die oberschlesische Eisenbahn, 1839 Regierungs- und Baurat in Gumbinnen und 1843 in Potsdam. Sein besonderes Interesse galt fortan dem Eisenbahnbau. Ab 1843 war er Bauleiter der Bahnstrecke Berlin–Potsdam–Magdeburg, schied jedoch nach einer kurzen Beurlaubung aus dem Dienstverhältnis aus und begab sich auf Studienreisen u. a. mit dem „Lokomotivenkönig“ August Borsig. 1846 warb Oberbürgermeister Francke Unruh für den Bau der Eisenbahnstrecke Magdeburg–Wittenberg, daher wechselte die Familie nach Magdeburg. Auf einer damals durchaus üblichen Spionagereise Anfang 1848 nach England studierte er nicht nur den Bau modernster Eisenbrücken, sondern auch das politische System und geriet „kopfüber in die Politik“.

Das Scheitern der Revolution und die Auflösung des Parlaments 1848 bewertete Unruh nicht ganz so negativ, wie manchmal behauptet wurde. Positiv registrierte er einen „ungeheuren Fortschritt“ im politischen Bewusstsein der Bürger und eine scharfe Trennung der Parteien. Zu Beginn der „neuen Ära“ unter der Regentschaft des Prinzen Wilhelm 1857 nahm er seinen Wohnsitz in Berlin, wurde Mitbegründer des Deutschen Nationalvereins und der Deutschen Fortschrittspartei (DFP), deren Vorsitzender er bis 1863 war. Im selben Jahr zog Unruh mit dem Mandat aus Magdeburg wieder in das Preußische Abgeordnetenhaus (Landtag) ein, zunächst als Gegner Bismarcks, später als dessen Unterstützter bei der Einigung Deutschlands. Nach der Spaltung der DFP gehörte Unruh zu den Gründern der Nationalliberalen Partei, saß mit dem Mandat aus Magdeburg ab 1867 im Norddeutschen bzw. Deutschen Reichstag und erhielt mit Beschluss der Magdeburger Stadtverordneten vom 28. Dezember 1875 aufgrund seiner Verdienste die Ehrenbürgerschaft der Stadt, die ihm anlässlich seines 70. Geburtstages überreicht wurde.

Unruh starb am 4. Februar 1886 in Dessau. Der Lithograf Eduard Uber (Lebensdaten unbekannt) zeichnete das Bildnis nach dem Gemälde eines unbekannten Künstlers im offenen Gehrock, mit Weste, weißem Hemd und schwarzer Halsbinde.

Das Kulturhistorische Museum Magdeburg erinnerte 2021 an Magdeburger Gesichter des 19. Jahrhunderts. Die Porträts der Sonderausstellung sind weiterhin in der Kompakt-Zeitung zu finden.

Seite 16, Kompakt Zeitung Nr. 243

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