Liga, verrückt
In der Handball-Bundesliga geht derzeit einiges drunter und drüber. Nur die Füchse Berlin und der SC Magdeburg halten Kurs.
Von Rudi Bartlitz
Rätselraten allenthalben: Was ist bloß los in dieser Handball-Bundesliga? Die Szene rätselt gerade da-rüber, was in dieser noch jungen Saison passiert. Nahezu Wochenende für Wochenende. Favoritenstürze allenthalben, klein schlägt groß, und wer eben noch an die Spitze rückte, hängt eine Woche später in der Grauzone. Am schlimmsten erwischt hat es bisher ausgerechnet den THW Kiel. Der Rekordmeister und amtierende Champion unterlag bereits vier Mal, zuletzt überraschend 34:35 in Leipzig und hakte die Meisterschaft bei nun schon acht Minuspunkten ab.
„Diese Liga kann dich in nur einer Woche auffressen“, schrieb Bob Hanning in seiner „Kicker“-Kolumne. „Spannender als jetzt kann es fast nicht zugehen!“ Wie schnell es am Ende wirklich gehe, zeige Hannover. „Vor zehn Tagen waren sie noch die gehypteste Mannschaft, jetzt sind sie vergleichsweise böse gestürzt. Es sagt ja schon alles über diese Liga aus, wenn der Tabellenvorletzte Wetzlar im Pokal in Kiel gewinnen kann.“ In Kiel, wohlgemerkt. So früh waren die Fördestädter seit 22 Jahren noch nie aus dem nationalen Wettbewerb geflogen. Einen weiteren Gedanken fügt Gummersbachs Manager Chris-toph Schindler hinzu; „Wenn behauptet wird, unsere zweite Liga sei die viertstärkste Handball-Liga weltweit, kann ich das nur bestätigen. Wer sich da in 34 Spielen durchsetzt, ist auch oben konkurrenzfähig.“ Beweise gefällig? Eben erst schlug Bietigheim Hannover im Pokal, Hamm hätte den HSV fast besiegt. Und in der Liga schlägt sich Aufsteiger ThSV Eise-nach mehr als prächtig, die vor der Saison mit einigen Top-Stars aufgerüstete und von vielen Experten als Meisterschaftsfavorit bezeichnete SG Flensburg-Handewitt kam hingegen gegen Lemgo und Hannover nicht über Unentschieden hinaus und verlor beim TVB Stuttgart sogar.
Aus dem fernen Norwegen meldet sich Superstar Sander Sagosen zu Wort. „Wahrscheinlich war die Bundesliga noch nie so schwer wie in dieser Saison“, so der Ex-Kieler. „Das zeigen auch die Menge seltsamer Ergebnisse.“ Noch einmal Hanning: „Das spricht für unser Produkt – die NBA des Handballs zeigt ihre absolute Ausgeglichenheit. Man hat sogar den Eindruck, dass sich die Liga vergleichbar mit der Premier League auch ohne die Nationalmannschaft zu einem völlig eigenen Produkt entwickelt. Wir sind nicht mehr so abhängig vom Wohl und Wehe des DHB-Teams. Wenngleich es das große Ziel bleiben muss, Liga und Nationalmannschaft in Einklang zu bringen.“
Bei der Suche nach den Ursachen dieser hohen Ausgeglichenheit stößt der Betrachter schnell auf einen Faktor: die gestiegene physische Qualität in den Reihen aller 18 Bundesligisten. THW-Nationalspieler Rune Dahmke konstatierte im Podcast der „Kieler Nachrichten“: „Im körperlichen Vergleich sind wir keiner Mannschaft mehr überlegen. Das sind alles Maschinen.“ Da hinein passt auch diese Feststellung von Trainer Filip Jicha: „Dieses THW-Trikot wiegt schwer, manchmal kommen wir an Grenzen, dass einige nicht jeden dritten Tag diesem Druck standhalten können. Das ist ein teurer Preis, den wir zahlen. Aber das ist auch ein Prozess.“
Vor ein paar Jahren wären derartige Sätze garantiert nicht gefallen. Da galten gerade die Kieler als geradezu körperliche Monster der Liga, die, wenn es denn wirklich einmal nicht anders ging, allein durch Kraft, Wurfgewalt und Kondition enge Spiele noch umbogen. Doch heute werden derartige Unterschiede eingeebnet – und leichte Spiele gibt es nicht mehr. Vor allem im Vergleich mit dem Hochgeschwindigkeitshandball aus Magdeburg und Flensburg wirkt das Kieler Spiel derzeit schwerfällig und frei von Leichtigkeit. In den vergangenen drei Jahrzehnten erspielten sich die Zebras den Nimbus der Unbesiegbarkeit. Doch diese Aura verblasst derzeit rapide und scheint in einen Nimbus der Besiegbarkeit umzuschlagen. Dennoch sagt Kiels Sportdirektor Viktor Szilagy: „Große Probleme sehe ich bei uns nicht.“ Das berühmte Pfeifen im Walde?
Es ist unübersehbar, alle Bundesliga-Vereine haben bei Sponsoren- und Zuschauereinnahmen zugelegt. „Die Infrastruktur der Vereine hat sich komplett verändert“, sagt Schindler, „dazu gehört auch das Reiseverhalten. Auch die Infrastruktur um die Mannschaft ist rasant gewachsen. Alle Spieler sind Vollprofis. Und dass da ein Trainer als Alleinherrscher alles selbst macht, das gibt es so nicht mehr.“ Von 30 Prozent mehr Etat als vor Corona spricht Frank Bohmann, Geschäftsführer der Handball-Bundesliga: „Früher brauchte man als Erstligist drei Millionen Etat, um sicher nicht abzusteigen. Jetzt sind es fast fünf.“
Aber gottseidank, möchte man hinzufügen, gibt es bei allem Hin und Her, bei allem Auf und Ab so etwas wie einige Konstanten in dieser Liga. Bisher zumindest. Der SC Magdeburg und vor allem die Füchse Berlin haben sich von der allgemeinen Verunsicherung (noch) nicht anstecken lassen. Die Füchse bleiben vorerst das Maß aller Dinge. Im absoluten Spitzenduell gegen den bis dahin ärgsten Verfolger MT Melsungen holten sie zuletzt den zehnten Sieg im zehnten Spiel. „Man muss anerkennen, dass die Füchse trotz ihrer angespannten Personallage momentan fantastisch spielen, sehr abgezockt und konstant“, lobt SCM-Nationalspieler Philipp Weber.
Und beim SCM selbst? Als Tabellenzweiter hinter den Füchsen liegt er, werden Kiel, Flensburg und die Rhein-Neckar Löwen als Maßstab herangezogen, vielversprechend im Rennen. Gewiss, der Ausfall des überragenden Spielmachers Gisli Kristjansson konnte nicht eins zu eins kompensiert werden. Sein Vertreter, der schwedische Nationalspieler Felix Claar, brauchte eine gewisse Zeit, um sich in die Abläufe einzutakten. Unübersehbar ebenso, Omar Ingi Magnusson, der zweite überragende Mann im Rückraum, ist nach langer Verletzung noch nicht bei 100 Prozent. Und dennoch, nach einer gewissen Anlaufzeit finden die Magdeburger (erst eine Niederlage Anfang September in Berlin – 26:31) immer mehr ihren Rhythmus. Zuletzt gelangen in Pflichtspielen (also einschließlich der Champions League) sieben Siege hintereinander. Der von Geschäftsführer Marc Schmedt zu Saisonbeginn beschriebene Anspruch scheint jedenfalls unverändert weiter zu gelten: In allen Wettbewerben, in denen der Club antrete (und das sind mit Meisterschaft, Pokal, Champions League und Vereins-Weltmeisterschaft immerhin deren vier), wolle er am Ende zu jenen gehören, die für den Sieg infrage kommen.
Seite 34, Kompakt Zeitung Nr. 243