Einfach mal Flagge zeigen
Rudi Bartlitz
Der Posten des deutschen Fahnenträgers bei Olympia 2024 ist im Vorfeld heiß begehrt. Ein Sachsen-Anhalter war noch nie unter ihnen. Die Eröffnungsfeier der Sommerspiele in Paris findet nicht in einem Stadion statt.
Wer bisher glaubte, im Ritual der über 120 Jahre währenden Geschichte der Olympischen Spiele der Neuzeit sei alles irgendwie schon einmal dagewesen, gäbe es – von der Invasion der Trendsportarten einmal abgesehen – nichts grundlegend Neues mehr, der muss sich eines Besseren belehren lassen. Zumindest in Deutschland. Über ein halbes Jahr bevor die Spiele in Paris beginnen, ja, bevor feststeht, wer letztendlich überhaupt die schwarz-rot-goldenen Farben vertritt, ist bereits ein Gerangel im Gange darüber, wem denn die Ehre zukomme, die Fahne bei der Eröffnungsfeier tragen zu dürfen. Dafür fehlen hierzulande historische Parallelen. Bislang war das stets eine Frage, die der deutsche Sport mehr oder weniger in Eigenregie entschied und nicht im öffentlichen Diskurs. Und sich selbst dafür ins Gespräch zu bringen – ein No-Go. Das gab es schon gar nicht. Man wurde quasi berufen.
Nun haben bereits einige Stars ihren Hut in den Ring geworfen. Als erster brachte sich Basketballweltmeister Dennis Schröder als Fahnenträger ins Gespräch. Mit Nachdruck sogar. „Ich muss die Fahne tragen!“, sagte der Nationalmannschaftskapitän. „Wenn nicht jetzt, wann dann? Es wäre mir eine große Ehre. Dirk (Nowitzki/d. Red.) hat sie 2008 auch getragen.“ Die Basketball-Legende hatte allerdings davon profitiert, dass der eigentlich Nominierte, Turner Fabian Hambüchen, wegen eines Wettkampfs am Folgetag verzichtete. Die Schröder-Bewerbung wollte der beste Tennisspieler des Landes offenbar nicht im Raum stehen lassen. Er könne sich gut vorstellen, erklärte Alexander Zverev bei Eurosport, bei der Eröffnungsfeier das deutsche Team als Fahnenträger anzuführen. „Das wäre etwas Besonderes. So eine traumhafte Aufgabe nehme ich selbstverständlich an“, sagte der Olympiasieger von Tokio. „Vor allem auch wegen Tokio ist Paris ein Riesenziel für mich“, führte Zverev, der 2021 als erster deutscher Profi Gold im Herren-Einzel gewonnen hatte.
Einer, der von den Experten ebenso genannt wird, drängt jedoch nicht in den Vordergrund: Magdeburgs Top-Schwimmer Florian Wellbrock. „Ich denke, dass es für jeden Fahnenträger eine große Ehre ist, die Aufgabe zu übernehmen“, wird er von „Sport Bild“ zitiert. „Allerdings bräuchte ich persönlich diese Aufregung direkt vor den Spielen nicht. Ich bin auch mit einer Rolle im Hintergrund sehr zufrieden.“ Sein persönlicher Favorit sei Schröder, fügte Wellbrock hinzu, da er „als Teamleader bei der Basketball-WM einen guten Job gemacht hat, wäre das für ihn und Deutschland eine super Sache!“
Den Einmarsch der Athleten bei einer Eröffnungsfeier gab es erstmals bei den Olympischen Spielen 1908 in London. Seitdem ist die Parade der Nationen hinter ihrem Fahnenträger ein festes Olympia-Ritual. Bei dem übrigens noch nie ein Athlet aus Sachsen-Anhalt die deutsche Fahne vorantrug – weder für die bundesdeutsche Mannschaft (seit 1992), noch für die frühere gesamtdeutsche Vertretung (1956, 1960, 1964), noch für die DDR (ab 1968).
Drei Sportlern aus dem Bindestrich-Land wurde in der Geschichte Olympias die Ehre zuteil, das schwarz-rot-goldene Banner bei der Abschlusszeremonie im Stadion zu präsentieren: Waldemar Cierpinski, Olaf Heukrodt und Thorsten Margis. Cierpinski, der zweifache Marathon-Olympiasieger (1976 und 1980) aus Halle, marschierte in Moskau dem DDR-Team bei der Schlussfeier voran. Der Magdeburger Kanute Heukrodt wurde 1988 in Seoul nach dem Gewinn von Gold und Silber im Canadier auserkoren, das Banner zu tragen. Er war zugleich der letzte Fahnenträger einer DDR-Olympiamannschaft überhaupt. Es sollten 33 Jahre ins Land gehen, ehe dann 2021 mit Bob-Anschieber Margis wieder ein Sachsen-Anhalter an der Reihe war. Der Hallenser hatte auf der Bahn von Peking zusammen mit Pilot Francesco Friedrich Gold im Zweier und Vierer geholt.
Noch ist freilich keine Entscheidung darüber gefallen, wer die beiden Athleten sein werden, die letztendlich die deutsche Fahne in Paris tragen. Denn seit den Sommerspielen von Tokio (2021/Laura Ludwig und Patrick Hausding) und den Winterspielen von Peking (2022/Claudia Pechstein und Francesco Friedrich) wird der deutsche Sport bei der Eröffnungsfeier jeweils von zwei Sportlern präsentiert – einer Frau und einem Mann. Bei den Frauen gelten für Paris derzeit Weitspringerin Malaika Mihambo, die Dressurreiterinnen Isabell Werth und Jessica von Bredow-Werndl sowie Bahnradfahrerin Emma Hinze als aussichtsreiche Kandidaten.
Egal, wem am Ende die Ehre zuteilwird, die Fahne tragen zu dürfen, die Auserkorenen erwartet ein absolutes Novum. Die Eröffnungsfeier 2024 nämlich wird zum ersten Mal in der langen Geschichte Olympischer Spiele nicht in einem Stadion stattfinden – sondern außerhalb. Und zwar auf der Seine. Diese völlig neue Parade von 10.500 Athleten auf dem Wasser werde, so versprechen es die französischen Gastgeber, zu einer grandiosen Show zu werden, „einer atemberaubenden Wasserparade“.
Am 26. Juli 2024, exakt 20:24 Uhr, soll das Boot der griechischen Delegation den traditionellen Einmarsch der Nationen – der diesmal aber keiner ist – anführen. Ihm folgen über 160 Boote unterschiedlichster Bauart, auf denen sich die Athleten der wahrscheinlich 206 oder 207 teilnehmenden Nationen befinden. Sie werden von der Pont d’Austerlitz zur Pont d’Iéna fahren und die verrückteste aller Eröffnungsfeiern der Olympischen Spiele einläuten. Die Flussparade bietet die Gelegenheit, so die Gastgeber, „zu einem märchenhaften Spaziergang entlang der berühmtesten Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt, einer traumhaften Kulisse für eine Gesamtschau, in der sich Zirkus, Tanz, Theater, Musik und Sport vermischen“ sollen. Alles im Weichbild von Eiffelturm und Notre Dame.
Und noch etwas eröffnet für Olympia völlig neue Dimensionen. Bisher zählten die Tickets für die Eröffnungsveranstaltung zu den begehrtesten überhaupt. Und damit auch zu den mit Abstand teuersten. Mit zu zahlenden Mondpreisen könnte in Paris jedoch Schluss sein. Nach dem Willen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) und des Gastgebers wird es eine Aufführung für die breite Öffentlichkeit: 600.000 Zuschauer werden entlang der sechs Kilometer langen Strecke erwartet, ein Rekord. Das ist etwa das Zehnfache der Kapazität eines Olympiastadions! Jeder Zuschauer muss eine kostenpflichtige Eintrittskarte besitzen, um die untere Promenade entlang der Seine zu betreten.
Der Clou jedoch ist ein anderer: Wer sich auf einer speziellen Plattform registriert, für den wird die obere Promenade kostenlos zugänglich sein. Olympia zum Nulltarif – Begründer Baron Coubertin würde vor Freude wohl in seinem Grab rotieren. Zumindest ein kleines hoffnungsfrohes Zeichen zwischen all dem Kommerz und Gigantismus, ohne den das weltgrößte Sportspektakel nicht mehr zu haben ist.
Seite 39, Kompakt Zeitung Nr. 244, 7.11.2023