Die Börde: O Täler weit, o Höhen!
Prof. Dr. Gerald Wolf
Weit weg sind sie, die Täler und die Höhen, alles ist flach, die Landschaft verkahlt − die Börde eben. Grüne Inseln finden sich gerade mal dort, wo sich Dörfer breitgemacht haben. Dazwischen kaum ein Baum, kaum ein Strauch. Es seien denn Bäume an Straßen, die die Bördelandschaft durchziehen. Die Feldwege sind häufig betoniert oder asphaltiert, allemal aber breit genug, um riesige Traktoren mit noch riesigeren Landmaschinen passieren zu lassen. Sie machen die klassische Feldarbeit entbehrlich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren noch 38 Prozent der Deutschen in der Landwirtschaft beschäftigt, heute sind es etwa 2 Prozent. Konsequenz: Die Dörfer veröden, viele Häuser stehen leer und verfallen, kaum noch Läden, fast keine Kneipen mehr und erst recht keine Tanzsäle, wie sie früher auf den Dörfern gang und gäbe waren. Wer will da hin? Die nach Deutschland Geflüchteten fühlen sich kaum jemals zu unseren Dörfern hingezogen, um in der Landwirtschaft zu arbeiten. Warum eigentlich nicht? Viele von ihnen kommen aus kargen Steppenlandschaften, unsere Böden sind viel, viel ergiebiger − und trotzdem.
Wald, der war einmal
Wer in der Börde lebt oder hier mit dem Auto unterwegs ist, kann sich nicht vorstellen, dass das einst alles Wald war, Wald ohne Anfang und Ende. Die Germanen priesen den Wald, weil er ihnen half, die Römer aufzuhalten und am Ende ganz zu vertreiben. Tacitus, ihr Geschichtsschreiber, meinte in seiner Schrift “De Germania”, dieses Land mache „mit seinen Wäldern einen schaurigen, mit seinen Sümpfen einen widerwärtigen Eindruck”. Und wirklich, die Natur war sich selbst überlassen und gedieh prächtig.
Wald gibt es in der Börde schon längst keinen mehr. Viel zu kostbar ist der Boden, um da einfach Wald wachsen zu lassen. In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts erhielt der Boden in der Gemeinde Eickendorf (heute Bördeland) die Bodenwertzahl 100 und galt somit als der fruchtbarste Boden Deutschlands. Nur an den Rändern der Börde gibt es auch heute noch Wälder. Gegenden sind das, auf die die Landwirtschaft nicht sonderlich erpicht ist. Aber auch dann darf der Wald nicht wachsen, wie er will, sondern nur so, wie der Mensch will. Und der will schnell und gerade wachsende Bäume, aus denen sich mit großem Gewinn Bretter machen lassen. Fichten- und Kiefernforste also müssen es sein, eintönig zwar, aber wirtschaftlich.
Eine Ausnahme gibt es: die Kreuzhorst − ein Auwald im Süden Magdeburgs, charakterisiert durch Ulmen und Eschen und durchzogen von einem Altarm der Elbe. Die Kreuzhorst ist ein seit dem Mittelalter behütetes Wald-Relikt. Lange Zeit hielt das Kloster „Unser lieben Frauen“ die Hand über dieses kostbare Fleckchen Natur. Heute wacht der Naturschutz darüber.
Die jüngere Zeit
Ende der siebziger Jahre ist der Autor mit seiner Familie von Leipzig nach Magdeburg gezogen. Beachtenswerte Wälder gab es auch damals nicht, die Kreuzhorst ausgenommen, dafür naturnahe Wiesen und Flure. Meist wuchs es hier, wie es wollte. Pflanzen der selteneren Arten gab es, die man heute lange suchen muss. Und Insekten, oft massenhaft. Die Blüten des Bärenklaus bogen sich, so schwer wogen die Krabbeltierchen, die sich an ihnen labten. Heute sitzt da mal eine Blaue Schmeißfliege, dort eine Grüne Goldfliege, und diese zusammen mit ein, zwei Wegwespen oder einem Schmetterling. Dem Kleinen Fuchs zum Beispiel. Dafür haben die benachbarten Blüten gar keinen Besuch.
Gewiss, den Bärenklau findet man auch heute noch, aber eher vereinzelt. Denn er gehört nicht zu dem Wiesentyp, wie er von der industriellen Landwirtschaft gebraucht und gepflegt wird. Um damit das Vieh zu füttern und die Biogas-Anlagen. Selbst das Gras der Wegränder muss für die Gasgewinnung herhalten. Zum Ausgleich schenkt uns die moderne Landwirtschaft Raps- und Maisfelder, die sich bis zum Horizont erstrecken. Und ebenso riesige Getreidefelder. Der größte Teil davon dient wiederum als nachwachsender Rohstoff für die Gewinnung von Bio-Energie. Weder Auge noch Ohr werden durch Auffälligkeiten in der Natur abgelenkt. Das Auge auch nicht durch die vielen Windräder, denn daran hat es sich längst gewöhnt.
Früher tirilierten Feldlerchen hoch oben am Himmel, Kiebitze flogen in Scharen auf, wenn man in den Elbauen wanderte, den Wiedehopf und sogar den Großen Brachvogel konnte man dort sehen. Der Brachvogel brütete im hohen Gras, wo die Autobahnbrücke hinüber nach Hohenwarthe reicht. Die Hecken waren voller Vögel, an sonnenbeschienenen Hängen harrten Eidechsen, es gab noch Bäche und Tümpel und mit ihnen Frösche und Kröten. Und wer sich für Insekten interessiert, ahnte spätestens beim zweiten oder dritten Blick in die Krautschicht, wie riesig deren Artenfülle war. Nicht nur die Fülle der Pflanzenarten ist zurückgegangen, auch die der Insekten, denn enorme Mengen an Insektiziden werden versprüht, um den landwirtschaftlichen Betrieben den Gewinn zu sichern.
Natur beobachten, wozu und wer überhaupt?
Für Ablenkung ist heutzutage gesorgt, ebenso für eher ernstzunehmende Information. Davon profitieren auch die Bewohner der Börde. Wohin man schaut, gibt man sich von den Handys gefangen. Zuhause ist es zusätzlich der Fernseher, der uns mit Neuigkeiten versorgt. Und mit Fußball und mit tatsächlich Wissenswertem. So eben auch mit Sendungen über die Natur. So wie man die Natur hier vorgeführt bekommt, ist sie in der eigenen Wirklichkeit praktisch nie zu sehen. Wozu dann noch Natur auf die eigene Faust? Und tatsächlich, während früher Spaziergänge mit den Eltern gang und gäbe waren, sieht man heutzutage Menschen „draußen in der Natur“ fast nur noch zum Joggen oder um den Hund auszuführen. Spaziergänge mit den Eltern oder Exkursionen mit Lehrern in Wald und Wiese, das gibt es praktisch nirgendwo.
In Magdeburg aber gab es diese Exkursionen. Jahr für Jahr bot der Autor, zusammen mit Mitarbeitern, an einem der Wochenenden im Frühjahr seinen (Medizin-)Studenten Natur-Exkursionen an. Fakultativ waren die, und die Studenten kamen trotzdem. Ein oder zwei Busse bedurfte es, um die jungen Leute vor die Tore der Stadt zu chauffieren. Dann ging es nicht nur um Heil- und Giftpflanzen, auch was da kreuchte und fleuchte wurde in Augenschein genommen. Die Frage an die Studenten nach deren Biologielehrern, wieso diese denn nicht Ähnliches angeboten hätten, wurde regelmäßig mit einem Feixen quittiert. Die hätten wohl Angst, gefragt zu werden, was das da für eine Blume sei, wie der Vogel heiße, der da so aufdringlich zwitschere, und wie der Käfer.
Früher hatte man mal geglaubt, die Grünen wären eine Partei, der in erster Linie unsere Natur am Herzen liegt. Nun sind Grüne vielfach an den Schaltstellen der Macht, und was hat diese Macht aus unserer Natur gemacht? Weniger Natur, sondern „Klimaschutz“ ist ihr oberstes Anliegen. Wie einst Religion den Glauben an Gott zum Dogma machte, so heute weltweit agierende Politiker das einzig auf den einen Aspekt an Klimawirksamkeit reduzierte Argument an menschgemachten Emissionen von Kohlenstoffdioxid (CO2). Naturschutz braucht mehr, viel mehr.
Plötzlich und eher unvermittelt kommt dieser Tage der Schutz der Moore dazu. Weniger geht es dabei um die Moore selbst und ihre außergewöhnliche Natur, nein, im Vordergrund steht wiederum der Klimaschutz! Die Moore seien so wertvoll wegen ihrer Fähigkeit, CO2 zu binden, heißt es. Ausgerechnet die Moore! Ohnehin haben nur wenige bis in unsere Zeit überdauert. Und in der Börde schon gar nicht.
Angebot: Vielleicht haben Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, Appetit bekommen, einmal das, was der Börde an Natur verblieben ist, näher zu erkunden? Am Beispiel der Kreuzhorst vielleicht? Solcherart Exkursion wurden in der Vergangenheit von der KOMPAKT ZEITUNG schon mehrfach angeboten und gern genutzt. Dann kam die Corona-Zeit dazwischen, aber nun könnten wir doch mal wieder losstiefeln. Zu denken ist an den Mai des kommenden Jahres. Die Einladung dazu lesen Sie zu gegebener Zeit in einer späteren Ausgabe.
Seite 4, Kompakt Zeitung Nr. 244, 7.11.2023