Magdeburger Gesichter:
Stiller Helfer für Waisenkinder
Karlheinz Kärgling
1818 erschien in der Creutz’schen Buchhandlung der „Entwurf zur Vervollständigung der Einrichtung des Armenwesens im Allgemeinen und in besonderer Beziehung auf die Stadt Magdeburg und deren Vorstädte“, 224 Seiten in Quart, herausgegeben „zum Besten der Armen-Erziehungsanstalt zu Magdeburg“ aus den Papieren des Verfassers von seinen Söhnen Friedrich Wilhelm und Eduard von Vangerow. Ihr Vater, der königlich-preußische Präsident des Oberlandesgerichts zu Magdeburg, Wilhelm Gottlieb von Vangerow, war zwei Jahre zuvor mit 71 Jahren gestorben. Den unveröffentlichten Texten hatte der Autor als Richtschnur eigenen Handelns eine Lebensregel von Annius Varus, dem Großvater Kaiser Mark Aurels, vorangestellt: „Laß das Gefühl der Menschlichkeit stets lebhaft in dir herrschen und nimmer es erlöschen; dies wird das Schicksal deiner Nebenmenschen dir wichtig machen!“
Über die frühe Kindheit Vangerows gibt es kaum Nachrichten. Der Knabe wurde am 4. Juli 1745 in den Umkreis einer neumärkischen Schulzenfamilie hineingeboren, deren Lebensmittelpunkt die preußische Festungs-, Verwaltungs- und Garnisonsstadt Stettin (poln. Szezecin) war. Sein Vater Friedrich Vangerow (1684–1749), verheiratet mit Johanna Dorothea, geb. Loeper (1712–1758), war Erbpächter von Arnswalde, preußischer Rat und Landrentmeister der Kriegs- und Domänenkammer. Ihr Sohn kam im Alter von 14/15 Jahren zur Vorbereitung des Studiums an das Pädagogium der Franckeschen Stiftungen Halle, das Eltern jährlich bis zu 300 Taler Schulgeld abforderte. Nachdem er zuletzt ein Jahr in der „Selecta“ Unterricht genossen hatte, verabschiedete ihn der Rektor am 20. April 1763 mit dem Zeugnis, er habe „durch Fleiß und Wohlverhalten eine gute Hoffnung von sich erweckt“.
Zwei Tage nach dem Abgangsfest beantragte Vangerow die Inskription in die Matrikel der Universität Halle zum Studium der Rechte. Im Mai 1766 wechselte der Student an die Akademie Göttingen, die er im Mai 1767 verließ, nachdem sein Gesuch um „Platzierung als Referendar“ am Kammergericht Berlin mit einer Ladung zum Einstellungsexamen beschieden worden war. Obwohl alle Stellen bereits besetzt waren, bekam er aufgrund besonderer Fähigkeiten im Oktober 1767 die Bestätigung aus Berlin. Zum Ende der üblichen Dienstzeit und nach einem abschließenden Einsatz in Stettin erhielt Vangerow im Spätsommer 1769 die Zulassung zum „großen Examen“.
Unmittelbar danach beförderte ihn der preußische Justizminister von Jariges zum Regierungs- und Pupillenrat bei der Kriegs- und Domänenkammer Magdeburg. Als „Pupillenrat“ führte er die Aufsicht über das Vormundschaftswesen. Das Elend der Waisenkinder, der Hilflosen und Bettler erschütterte ihn derart, dass er fortan versuchte, dessen Quellen und Ursachen zu erkunden und zu beseitigen. Gleichgesinnte fand Vangerow bei den Zusammenkünften der bereits 1761 gegründeten „Mittwochsgesellschaft“ – Theologen, Rektoren, Lehrer, Schriftsteller, Kirchenlieddichter, Musiker, Mediziner, Beamte, Naturwissenschaftler.
Mit den Jahren dominierten in den abendlichen Veranstaltungen nicht mehr nur die Aufklärungsliteratur und die „schönen Wissenschaften“, vielmehr hatte sich der Blick geweitet auf die das Zeitalter erfüllenden Ideen. Vangerow zählte zu den eher stillen Mitgliedern, begann auch bald neben dem Amt seine schriftstellerische Arbeit und trat als juristischer Autor mit dem „Entwurf des Wechselrechts nach den Grundsätzen der preußischen Staaten“ (1773) und der „Theorie der gerichtlichen Decretirkunst“ (1782) hervor. Im „Magdeburgischen Magazin“ Georg Heinrich Berkhans erschien aus seiner Feder ein erster Beitrag zum Armenwesen, der das Fundament legte für den unermüdlichen Einsatz Vangerows zur Reform des Armenwesens in der Stadt und bei der Einrichtung einer Industrie- und Erwerbsschule im Geiste Pestalozzis.
1771 heiratete er Christiane Sophie Marie, geborene Weinschenk (1754–1786), aus Magdeburg. Als in den 80er Jahren führende Vereinsmitglieder „der ersten Stunde“ nach Hamburg, Berlin oder wie Schummel nach Schlesien abwanderten, fanden mit der geänderten Zusammensetzung die aktuellen philosophischtheologischen Auseinandersetzungen Eingang in den gelehrten Klub. Vangerow blieb in dieser Zeit der Gesellschaft offenbar des Öfteren fern und kündigte dann auch die Mitgliedschaft, ohne jedoch freundschaftliche Verbindungen zu lösen. So wurden Rektor Gottfried Benedikt Funk, Propst Gotthilf Sebastian Rötger und Pfarrer Heinrich Rathmann Autoren der von ihm 1789–1791 herausgegebenen Wochenschrift „Magdeburgische gemeinnützige Blätter“, in der im November 1790 eine erste ausführliche Biografie erschien über
Johann Bernhard Basedow, den Begründer des Dessauer Philanthropins, einer „Pflanzschule der Menschheit“.
Andere arbeiteten im Ehrenamt oft über Jahre an seiner Seite. Funk war ab 1785 Mitglied des Konsistoriums und des Almosen-Collegiums, Johann Gottlieb Schummel, der inzwischen in Breslau lehrte, gab ihm Ratschläge bei der Gründung der Magdeburgischen Provinzial-Kunstschule (1793), und Rötger gehörte ab 1804 zum Generaldirektorium der Zwangs-Arbeits-Anstalt für das Herzogtum Magdeburg Groß Salze. 1815 initiierten Funk, Rötger und Vangerow die Gründung der Magdeburger Bibelgesellschaft. Beförderungen, die an eine Versetzung geknüpft waren, lehnte Vangerow wegen familiärer Bindungen an Magdeburg ab.
1791 heiratete er in zweiter Ehe Johanne Charlotta (1770–1820), die Tochter des Universalgelehrten und Reiseschriftstellers Johann Jacob Volkmann in Zschortau. Aus dieser Verbindung gingen die Söhne und eine Tochter hervor. Kurz danach erhielt er dank seiner Verdienste um die Revision des neuen Gesetzbuches und der Untergerichte das Prädikat „Geheimer Justizrat“, wurde zudem Direktor des Almosen-Kollegiums, im Juli 1795 Vize-Präsident und am 14. Dezember 1797 Regierungspräsident in Magdeburg, mithin Präsident des Konsistoriums und der Pupillenbehörde. Die Nobilitation behielt sich der König für den Tag der Huldigung am 6. Juli 1798 vor. In der „westfälischen Zwischenherrschaft“ wurde er 1808 zum „Civil-Tribunals-Präsidenten“ ernannt und mit der Neuordnung der Monarchie 1815 zum Oberlandesgerichtspräsidenten.
Den Zeitgenossen galt Vangerow als einer der gelehrtesten, tätigsten und geschicktesten Präsidenten. Im Stich Friedrich Wilhelm Nettlings (Lebensdaten unbekannt) nach einer Vorlage Adolph Fischers (geb. 1755) ist Vangerow in Paradeuniform als Brustbild nach halbrechts dargestellt. Nach seinem unerwarteten Tod am 6. Oktober 1816 sprach das Almosenkollegium in der Magdeburgischen Zeitung vom Verlust eines unermüdlichen Freundes und Wohltäters und würdigte seine um die Menschheit erworbenen Verdienste.
Das Kulturhistorische Museum Magdeburg erinnerte 2021 an Magdeburger Gesichter des 19. Jahrhunderts. Die Porträts der Sonderausstellung sind weiterhin in der Kompakt-Zeitung zu finden.
Seite 10, Kompakt Zeitung Nr. 244, 7.11.2023