Ich spreche Deutsch:
In Deutsch schlecht, in Englisch gut
Dieter Mengwasser - Dipl.-Dolmetscher und -Übersetzer
Mitte Oktober 2023 gab es die folgende Meldung im Rundfunk, in den gedruckten Medien und auch sogar im Fernsehen der öffentlich-rechtlichen Anstalten: „Die Deutsch-Leistungen von Neuntklässlern haben sich einer Studie zufolge seit 2015 deutlich verschlechtert. Etwa jeder Dritte scheiterte im vergangenen Jahr bei deutschlandweiten Tests an Mindeststandards für den mittleren Schulabschluss im Bereich Lese- und Hörverständnis – mehr als jeder Fünfte verfehlte diese im Bereich Rechtschreibung. Das geht aus dem IQB-Bildungstrend hervor, der zum Abschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) vorgelegt wurde.“ IQB ist die Abkürzung für Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, das als sogenanntes An-Institut zur Humboldt-Universität Berlin gehört. Es wird durch die Bundesländer finanziert. Im vorigen Jahr, also für 2021, hatte das Institut in seinem Bericht zu den gegenwärtigen Tendenzen im Bildungswesen festgestellt, dass die Schülerinnen und Schüler der 4. Klasse immer schlechter lesen und rechnen können. Bezüglich der Neuntklässler liefert die Studie dennoch einen Lichtblick: Im Gegensatz zu den Deutsch-Ergebnissen sind die Fähigkeiten im Fach Englisch „äußerst erfreulich“, heißt es im Bericht. Neuntklässler seien im Jahr 2022 deutlich besser in der Lage, schriftliche Texte und gesprochene Sprache in Englisch zu verstehen als 13 Jahre zuvor.
Die Studienautoren gehen davon aus, dass vor allem die stärkere Nutzung von digitalen Medien und Inhalten auf Englisch während der Corona-Pandemie zu dem Ergebnis beigetragen haben könnte. Mit Blick auf Plattformen wie TikTok, YouTube und Streamingdienste sprechen die Autoren von „außerschulischen Lerngelegenheiten“.
Eine mögliche Ursache für das schlechte Abschneiden in Deutsch könnten gemäß den Autoren der Studie die Corona-Schutzmaßnahmen sein, die in großem Stil Schulen betrafen. Es sei davon auszugehen, „dass der Fern- und Wechselunterricht, der bundesweit über längere Zeiträume umgesetzt wurde, die ungünstigen Entwicklungen im Fach Deutsch in nicht unerheblichem Maße mit verursacht hat“.
Eine weitere mögliche Ursache für die Ergebnisse im IQB-Bildungstrend könnte laut den Forschern der gestiegene Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sein. Dies ist verständlich, wenn wir uns unsere deutsche Sprache ansehen. Sie ist kompliziert, und jemand von uns Deutschen, der behauptet, ganz perfekt Deutsch zu sprechen und auch die Rechtschreibung völlig zu beherrschen, einen solchen Menschen könnte man mit vollem Recht als Prahlhans und Lügner bezeichnen.
Gelobt werden in der genannten Studie die Englisch-Kenntnisse der Lernenden. Eigentlich erfreulich. Ob es hier einen Einfluss aufgrund des immer weiter um sich greifenden Trends zur Einfügung englischsprachiger Wörter in unsere deutsche Sprache gibt? Auf jeden Fall werden die meisten Veranstaltungen für Jüngere, aber auch für Erwachsene, fast nur in Englisch oder Denglisch angekündigt. Auch offizielle Stellen beteiligen sich daran. Es wäre jedoch verfehlt zu sagen, dass nun ein solches Niveau der Sprachbeherrschung im Englischen herrsche, dass Deutsch aus unserem Alltagsleben verdrängt werden könnte. Um eine solche Kompetenz zu erreichen, bedarf es viel, viel mehr als nur guter Lernergebnisse in der Schule.
Die möglichen Ursachen für das schlechte Abschneiden im Fach Deutsch werden in der Studie nicht besonders ausführlich behandelt. Wir erlauben uns hier, noch eine weitere mögliche Ursache anzuführen, und zwar mit konkreten Beispielen:
- „Drachen-Herbst-Fest. Der Erlebnisbauernhof erwartet euch mit Hüpfburg, Spielplatz und der Freiwilligen Feuerwehr, Tiere Füttern, Kinderschminken und Ponyreiten sowie natürlich einem Stand zum Drachen bemalen und einer Wiese zum Drachen steigen lassen. Der Baggerlebnispark Magdeburg ist auch vor Ort.“
- „Schneewittchen. Muss man wirklich alles glauben, was ein Zauberspiegel sagt? Wer sind die sieben Zwerge – knuffige Kerlchen oder anarchisch-selbstbestimmte Outlaws?“
- „Neben endlosen Möglichkeiten zum Spielen, Toben und Spaß haben im Innen- und Außenbereich, wartet ein prächtiger Geburtstagstisch mit eigenem Thron im Restaurant. Wir sind ein Ort zum Treffen, Essen und Ausruhen, umgeben von Kreativwerkstätten, Spider-Tower, einzigartigen Adventurespielplätzen (In- und Outdoor) und spannenden Überraschungen.“
- (Puppentheater) „Ein Theater für Kinder über das immer wieder aufgeschobene Projekt Entenessen, über Impulskontrolle und, last but not least, über die Liebe.“
Sie sehen, liebe Leserinnen und Leser, dass Denglisch hier nicht ausgespart wird. Alle hier angeführten Zitate sind vollständig, von unserer Seite ohne Hinzufügungen oder Weglassungen von Wörtern oder Satzzeichen und ohne Korrektur von Druckfehlern und Kommas. Die Zitate sind einem Magazin entnommen, das sich an Kinder und deren Mütter und Väter richtet. Dürfen wir hier die Frage stellen, ob solche Ankündigungen und Texte wie oben kindgerecht sind? Und wie weit sind sie förderlich für das Verstehen und Schreiben der deutschen Sprache?
In jeder Sprache, sei es in Französisch, Russisch, Englisch usw., werden Muster, Modelle, Stereotype verwendet. Das heißt, bei fast allem, was wir sprachlich von uns geben, benutzen wir solche Wörter und Wendungen, die schon mal jemand vor uns gesagt oder geschrieben hat. Und das bezieht sich natürlich auch auf die Zitate, die etwas weiter oben angeführt sind. Die Kinder, falls sie schon lesen können, und natürlich die jungen Mütter und Väter greifen bewusst oder unbewusst auch auf das zurück, was sie in dem erwähnten Magazin gelesen haben. Insbesondere bei Kindern verfestigen sich Wörter und Wendungen dieser Art, vor allem, wenn ihnen anderes nicht geboten wird.
Insgesamt, so unsere Einschätzung, herrschen ein Klima und eine Atmosphäre in Deutschland, die der deutschen Sprache nicht gut bekommen. Wo werden noch deutsche Volkslieder gesungen? Gibt es Radiosender, bei denen Sie Musiktitel, also auch Schlager, in deutscher Sprache hören können? Über den Deutsch-Unterricht in den Schulen können wir uns kein Urteil erlauben, aber gibt es Verbindungen zwischen den Fächern Deutsch und Fremdsprache? Man könnte sich vorstellen, dass auch im Fremdsprachenunterricht Bezüge zwischen den gerade behandelten Themen, z. B. beim Gerundium im Englischen (im Deutschen häufig mit ‚um zu‘ oder Nebensatz übersetzt), zur deutschen Sprache hergestellt werden. (Solche Möglichkeiten wurden leider auch zu DDR-Zeiten im obligatorischen Russischunterricht wenig genutzt. Vokabeln einpauken, sogenannte Nacherzählungen – auswendig gelernte Texte –, so sah wohl der Alltag aus. Akademiker jedoch, die in ihren Schulzeiten Lateinunterricht mit vielem Übersetzen ins Deutsche hatten, beherrschen im Allgemeinen sehr gut die deutsche Sprache.)
Deutschland hat viele Probleme, und manchmal wird das Land als „kranker Mann“ Europas bezeichnet. Unsere Sprache, eine alltägliche Erscheinung und ständig in Benutzung, ist sie auch „krank“? Was meinen Sie, liebe Leserinnen und Leser?
Buch-Tipp: Die Beiträge von Dieter Mengwasser sind als Buch unter dem Titel „Ich spreche Deutsch! – Sprachbetrachtungen eines Sprachkundigen“ erhältlich. Die Bücher können im KOMPAKT Medienzentrum erworben oder online unter www.kompakt.media bestellt werden.
Seite 32, Kompakt Zeitung Nr. 245, 22. November 2023