Standpunkt Breiter Weg:
Der Verfall von Wirklichkeit
Thomas Wischnewski
Die Tage am Ende eines Jahres sollen besinnlich sein. Man trifft sich in der Familie, verbringt gemeinsame Zeit und beschenkt sich mit Aufmerksamkeit. Hoffentlich finden viele solche Momente. Kürzlich fragte ich eine 15-jährige Schülerin, wieviel Zeit sie mit Freunden verbringen würde. Die Antwort lautete: “manchmal träfe man sich einmal pro Woche, manchmal mehrere Monate nicht.” Mich hat das Bekenntnis erschüttert. Und eine weitere gleichaltrige Jugendliche bestätigte für sich eine ähnlich karge Treff-Frequenz.
Die Klagen über eine zunehmende Ellenbogen-Mentalität, über mehr Egoismus und Individualismus existieren seit vielen Jahren. Sie werden vorwurfsvoll und vehement geäußert. Wollen wir nicht bemerken, dass wir diese Gesellschaft, das Verhalten miteinander und die Verantwortung füreinander alle selbst verändern. Kürzlich sagte ein Warenhauschef, dass zentrale Lagen für das Einkaufen in Innenstädten nicht mehr wichtig wären. Alle verändern mit ihrem Online-Verhalten in der Virtualität die Wirklichkeit. Es nutzt nichts, wenn engagierte Menschen aus Stadtpolitik, Einzelhandel, Kammern und Verwaltung die Köpfe zusammenstecken und darüber nachdenken, wie man Stadtzentren attraktiver macht. Die Mehrheit mit ihrem Verhalten verändert die Welt.
Wohin entwickeln sich junge Menschen, die gar mit ihresgleichen nur noch selten zusammenkommen. Freundschaft, Verantwortung füreinander, soziales Engagement, Erfahrungen miteinander machen – all das erfordert Lebenswirklichkeit. Genauso wenig, wie ein Video über eine verheißungsvoll leckere Speisenzubereitung niemanden satt macht, sind auch Schriftzeichen oder Sprachschnipsel wenig hilfreich, um eine gemeinsame Erlebniswelt zu erzeugen. Wer meint, im politischen Raum würde da Lösung für eine verantwortungsvollere Gesellschaft erzeugt werden können, macht sich klar, dass Politik selbst nur eine Kommunikationssphäre ist. Nicht das Internet verändert uns, wir alle in Summe sind die Kraft der Veränderung. Je mehr jemand einen Missstand auf irgendwelchen Plattformen anprangert, umso weniger geschieht dagegen. Wahrscheinlich fördert das Online-Schimpfen ein Wenig genau das, was beklagt wird.
Die Ampel-Regierung in Berlin steht unter starkem Beschuss. Energiepolitik, Finanzpolitik, Migrationspolitik, Außenpolitik, sinkende Wirtschaftskraft, steigende Arbeitslosigkeit etc. – die Liste lässt sich beliebig fortschreiben. Überall hört man Menschen schimpfen, meckern, klagen. Was passiert? Nichts! Was wir selbst nicht tun – und zwar in Summe vieler – wird zu keinen Verbesserungen, sondern zur Verschlimmbesserung führen.
Wir haben uns an die Fenster zur Welt – wenn wir damit Bildschirmchen der Handys, Computer und Fernseher meinen – fesseln lassen, reden in diese Apparate hinein und glauben, mehr als die Lippen oder Augen bewegen zu können. Wer daran glaubt, ist einem Irrglauben aufgesessen. Es ist wie zu Weihnachten: nur wenn man gemeinsam das Fest verbringt, entsteht die Zeit, die gemeinhin gewünscht ist. Alles andere macht einsam und belegt nur den Verfall an Wirklichkeit.
Seite 2, Kompakt Zeitung Nr. 246, 10. Dezember 2023