Stille Nächte
Tina Beddies-Heinz
Die Mütze hatte ich mir etwas zu tief ins Gesicht gezogen, aber es reichte aus, um mit den Augen unter ihrem Rand hervorzublinzeln und die Umgebung wahrzunehmen. Immerhin war so ein kleiner Teil meines Gesichts – zwischen Wollmütze und Schal – das einzige, das der beißenden Kälte ausgesetzt war. Mit schweren Schritten schlurfte ich die Schönebecker entlang, während mir mein Atem den Weg wies, und bog schließlich in den Engpass ab, der zu dieser Zeit des Jahres von Lichterketten erleuchtet war. Doch ihr wärmender Schein, der zumindest das Gemüt etwas zu erhellen vermochte, ließ mich diesmal kalt. Da ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten hatte, war ich überhastet aus der Wohnung gestürmt, hatte dabei zwar an Kopfbedeckung und Schal gedacht, die Handschuhe jedoch auf dem kleinen Schrank im Flur liegen lassen. Also vergrub ich meine Hände so tief wie möglich in den Taschen meines Wintermantels, der so noch stärker an meinen Schultern zog.
Links und rechts waren zahlreiche Fenster der Häuser, die den Engpass säumen, erleuchtet. Hier und da huschte der Schatten einer Person durch das Bild und ich fragte mich, was die Menschen hinter den Fensterscheiben in diesem Moment wohl taten. Ob sie einen Weihnachtsbaum aufgestellt hatten? War dieser schon fertig dekoriert? Oder gab es noch Uneinigkeit darüber, welches Ornament, welche Kugel an welchem Ast zu hängen hatte? Was würde bis morgen noch alles zu erledigen sein? Waren bereits alle Geschenke eingepackt? Und würden diese heimlich unter dem Weihnachtsbaum landen, wenn die Kinder abgelenkt waren – um ihnen dann später zu sagen: „Ihr habt den Weihnachtsmann verpasst …“? Oder hatte sich ein Freund der Familie dazu breitschlagen lassen, am Heiligabend den Dicken mit seinem weißen Bart und roten Anzug zu mimen, den Kleinen das Versprechen abringend, dass sie natürlich immer brav sein würden? Und schließlich die Frage aller Fragen: Was würde es zu essen geben? Kartoffelsalat mit Würstchen am 24. Dezember und Gans mit Klößen und Rotkohl am 25. Dezember? „Weil wir das schon immer so gemacht haben!“ Oder würde jemand aus der Reihe tanzen und etwas Neues probieren?
All diese Fragen gingen mir durch den Kopf, während ich den Weg hinab zur Elbe eingeschlagen hatte. Und als ich jenseits des Mückenwirts die Lichter der Stadt hinter mir ließ – weder diesseits noch jenseits des Flusses gab es etwas, das ein Leuchten oder Funkeln erzeugt hätte, ja noch nicht einmal im Himmel war ein Stern zu entdecken – sagte eine innere Stimme: Was kümmert es dich, wie andere Weihnachten verbringen? Was kümmert dich Weihnachten überhaupt? Im Dunkeln setzte ich einen Fuß vor den anderen. Wohin mich meine Beine trugen, war mir unbekannt. Mein Magen zog sich plötzlich zusammen. In einem Moment hatte ich noch über Kartoffelsalat und mögliche Varianten eines Festtagsmenüs nachgedacht, im nächsten Moment war mir zum Kotzen zumute.
Weihnachten … das Fest der Liebe! Ich versuchte den Würgereiz zu unterdrücken. Wie sollte ich dieses Kammerspiel nur ohne dich überstehen? Dieses Mal und all die anderen Male? Du hattest dich vor wenigen Wochen verabschiedet. Kampflos warst du gegangen. Mit Ankündigung zwar. Doch das hatte mich nicht auf das Danach vorbereiten können. Und während alle anderen zu Hause versuchten, die Fassade aufrecht zu erhalten und mir das schönstmögliche Weihnachtsfest zu bereiten, saß ich regungslos auf einer Bank im Dunkeln an der Elbe. Ich starrte geradeaus, dorthin, wo sich der Fluss in mäßiger Geschwindigkeit stromabwärts bewegte.
Das Wasser vor mir konnte ich nur erahnen. Den Wind an meiner Wange hingegen spürte ich sehr deutlich. Die Kälte hatte meinen Körper übernommen und weder Mütze noch Schal konnten dagegen etwas ausrichten. Selbst die Handschuhe – hätte ich sie nicht zu Hause vergessen – würden ihren Zweck nicht erfüllen. In der Hoffnung, die eisige Luft könnte die grausigen Gedanken aus meinem Kopf vertreiben, atmete ich lange und tief ein. Dabei keimte die Frage in mir auf, wie sich wohl Virginia Woolf an jenem Tag im März 1941 gefühlt hatte, als sie die Entscheidung traf, die Taschen ihres Mantels mit Steinen vollzupacken und in den Fluss in der Nähe ihres Landhauses bei Lewes im englischen Sussex zu waten.
Ich seufzte und wartete, dass sich der Schmerz einen Weg nach draußen brechen würde. Doch nichts geschah. Gedankenversunken und ahnungslos, wie lange ich auf dieser Bank gesessen hatte, kam ich erst wieder zu mir, als ein Tropfen meine Wange hinabrollte. Mit dem Zeigefinger wischte ich ihn ab und berührte mit der Fingerkuppe meine Lippen. Kein Salz. Keine Träne. Mutlos sah ich mich um und brauchte eine Weile, um zu erkennen, woher der Tropfen gekommen war: Schneeflocken tanzten durch die Dunkelheit und wurden nur durch den Wind in einen anderen Rhythmus gezwungen. Vorsichtig lächelnd lehnte ich mich auf der Bank zurück, legte den Kopf in den Nacken und schloss meine Augen …
Seite 34, Kompakt Zeitung Nr. 246, 10. Dezember 2023