Papier ist eine geduldige Geschmackssache

Ein modernes Märchen von Ralf Thiem: „Das bracht’ ich fleißig mit Feder und Tinte zu Papier.“

Seit langer Zeit regiert im Euroland ein König, der nennt sich BYROKRATOS der Neunte, denn ER hat neun Ohren und neun Augen. Alles ist bei IHM neunfach vorhanden: Köpfe, Arme, Hände, Finger, Münder, Beine usw. Folglich ist ER immer hungrig. Besonders gierig ist ER nach dem, was ER ausgesprochen gern isst: Das ist Papier. ER kann gar nicht genug davon haben. Deshalb fordert ER in einer zunehmenden Zahl von Gesetzen, Verordnungen und Rundschreiben seine Untergebenen auf, immer mehr an Papier IHM als Abgaben zu bringen, wodurch diese weniger Steuern zahlen müssten. Sie wären nur dann gute Patrioten, wenn sie freiwillig die Papierabgabe an IHN erhöhen. Auch sollen sie alles zu den Akten nehmen, was sie denn den lieben, langen Tag so tun. Und dies selbstverständlich auch dokumentieren, minutiös aufschreiben, wenn sie für IHN – Tag und Nacht – tätig sind. Denn ER liebt die Ordnung! Deshalb muss alles in neun Kopien erfasst und in Ablagen auf seiner Burg hinter den neun Aktenbergen niedergelegt werden. Überall lässt ER unter dem Namen ARCHIV Papier-Sammelstellen anlegen, um Vorräte für schlechte Zeiten zu besitzen.

 

Seine BYROKRATEN sind ausgebildete Papierriecher und können es in jeder Ritze, in allen Verstecken erschnüffeln. Mit Ärmelschonern, Stempeln sowie mit Reißwölfen und Papierkörben bewaffnet, schleichen sie durch die Lande, wo sie die Worte ausrufen: JEDES STÜCKCHEN PAPIER, JA DAS SAMMELN WIR! Kontrolliert wird auch durch seine KORINTENKACKER, ob der verbotene Gebrauch von Toilettenpapier von Euch Schmutzfinken und Dreckspatzen eingehalten wird. Wozu braucht ihr Heulsusen Tempo-Taschentücher? Wir werden Euch was niesen. Wisch und weg geht auch mit den Händen.


Immer weiter und noch mehr soll aufgeschrieben werden, besonders viel an Zahlen, denn ER betreibt auch ein Statistikbüro mit einem außergewöhnlichen Sinn für jede Art von Zahlen. Zahlen sind einfach fantastisch. Denn alles lässt sich damit beweisen, und widerlegen, wie die Stillstands- oder Bewegungslehre, oder wie viele Fliegen wurden behufs Umdrehens eines Blatt Papiers mit einem Schlag getötet? So weiß man alles über seine gefräßige Papierfütterung, weil amtlich von Pappnasen berechnet. Folglich ist das Ergebnis nicht von Pappe. Selbst Dachpappe und Tapeten waren darin einbezogen. Und wie ER liegen seine Frau und Kinder in Kartonagen, sind zu Paketen verschnürt. Sie werden, wie bei den Bienen, mit Büchern, Zeitungen, Broschüren und Magazinen, von IHM Buchstabensuppe, Leseratte, Honigkuchen, Buntwäsche usw. genannt, aufgepappt.

 

Heil und Lob den Zahlen, denn sie bereiten weder Kopfschmerz noch Höllenqualen.

 

Sie vermitteln den Untertanen seine Benimmkultur. Die 1 zeigt ihnen die aufrechte, die 2 die unterwürfig gebeugte Körperhaltung an. Die 3 mit zwei Öffnungen für den Papiereinwurf ist das Symbol für den Moloch Verwaltung und die 4 reimt sich auf Papier. Zählt man weiter bis zur 8, heißt das, es folgt eine lange Nacht, bis man sie zur 9 aufgerundet hat. Man macht sich dabei viele Gedanken! Nimmt man dazu Brüche oder Dezimalzahlen, helfen Ab-, Um-, Aus- oder Wegbuchungen? Braucht man einen oder mehrere Schuldenberater? Was hilft gegen das aufkommende Schuldenbewusstsein? Soll man psychologisch Bremsen oder Durchstarten?

 

Knusper, knusper, knäuschen, wer knuspert an meinem Potemkin’schen Kartenhäuschen? Das Gericht, das Gericht, wenn es spricht: Papier ist zwar geduldig, beim Haus der Finanzen aber bleibst DU was schuldig.

 

Schließlich kommen sie doch noch zum Zuge, die lauernden Nullen, die sich überall vordrängen und sich wie Kletten anhängen wollen, um beim Haben und Soll zu tricksen, bis sie sich zu einer einzigen großen Null, dem schwarzen Loch, zusammengerollt haben. Man muss nur das Komma richtig setzen! Ha! Da sind wir so frei und legitim demokratisch, ganz ohne rot zu werden. Rot ist was Soziales, und wenn die Ampel Rot zeigt, dann bleibt man stehen. Hauptsache der Verkehr rollt. Die Grünphase für Fußgänger und Radfahrer gilt es also abzuschaffen! Sie behindert nur uns Bewegliche, wir sind der Jobmotor, wie haben Benzin im Blut. Auch bekannt als Wi(r)ssing-Suppe. Und wer sie nicht mag, für den gibt’s was vom Mann aus dem Busch mit der Keule aus Lind(n)erHolz. Doch wird ER sich später, mit dem Mut zur Lücke, überhaupt noch daran erinnern können? Denn bei IHM ist die Drei-Affen-Kultur heilig.

 

Wenn man von der 0, diesem ovalrunden Nichts, deren zwei an die Tür hängt, dann kann man hinter dieser gut über große oder kleine Quellen sinnieren, wie: Sollen wir mit unserem Kack-Produkt unsere Wälder düngen, wo das Rohprodukt Papier wächst?

 

Mittels Rechnungsbüchern füllen wir sein Akten-Meer auf, worin der Herrscher voller Begier badet. Auch bereitet IHM große Freude, huldigt man IHM fristgerecht mit römischen Ziffern im Tabellenformat, denn sie dienen IHM in seiner Algebra und bei der Kunst der Cameralistik, wo es Zahlen nur als Luftbuchungen gibt. Die Spielwiese nennt sich Neudeutsch INTERNET. Oder wie wär’s mit einer Runde MONOPOLY zum Zocken. Das moderne Geld braucht kein Papier mehr, längst inflationär zum Spielgeld abgewertet, so wie der moderne Brief keine Briefmarke benötigt. Das sind ja eh alles nur Peanuts, sagt der Nussknacker. Dafür gibt’s eine Runde Konfetti! Und der Banker ruft dazu auf, Papiergeld zu verbrennen, deren Reste man sich am Aschermittwoch zur Buße aufs Haupt streut. Aber wenn erst einmal die Papiertiger losgelassen wurden, dann, Leute, kommt es bestimmt zum Papierkrieg. Laut klagt das Volk über seine Herrschaft. Hieb man jedoch dem König einen Kopf ab, so wuchsen IHM an dessen Stelle neun neue geschwind. Und fragt man IHN, wie geht es nun weiter, kommt nichts als Toten-Stille, kein Wums, kein Rums-Bums aus der gefräßigen Maschine. Kein Echolaut dringt aus der Abtauchstation.

 

Das geduldige Papier sagt, bevor es zerrissen und eingeweicht in den Brei-Kochtopf wandert: Lebt wohl, menschlicher Verstand und Gedächtnis. Gern wär’ ich noch einmal eine Tüte, sie war mein schönstes Leben. Jetzt macht ER daraus sein Fressen und nennt es Makulatur. Und die Zeche gibt’s nicht auf einem Bon, dafür reicht kein Kassenzettel. Die dicke Rechnung kommt später, ohne Wenn und Aber. Ich hör’ schon euer Palaver.

 

Heil IHM! Denn mehr als alle anderen Monarchen der Erde hat er viel für unsere Literatur getan, der nun das Papier ausgeht. Also: Behelft euch mit Lumpen, ihr Lumpen. Das ist die Welt des Borgens auf Morgen. Doch dann schick’ ich Euch mindestens einen Lumpensammler.

 

Und wenn ER nicht gestorben ist, so lebt ER noch viele Jahre zufrieden und glücklich, bis BYROKRATOS der Zehnte weiter für unser Unbehagen sorgt. Nur unsere Vorstellung, es könnte uns mit weniger Papier im Leben besser gehen, das verbittert IHN.

Seite 24, Kompakt Zeitung Nr. 246, 10. Dezember 2023

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