Die besten, die gerade zu finden waren

Rudi Bartlitz

Bei der in dieser Woche in Deutschland beginnenden Handball-Europameisterschaft zählt das schwarz-rot-goldene Team nicht zu den Favoriten. Bundestrainer Alfred Gislason zeigt sich risikofreudig und ganz schön mutig.

Die Prognosen streuen wie bei einer alten Schrotflinte, die schon ein wenig Rost angesetzt hat. Egal, mit wem man zuletzt über die in dieser Woche hierzulande beginnende Handball-Europameisterschaft und das Abschneiden des schwarz-rot-goldenen Teams auch sprach. Die Extrempositionen: Ein junges hoffnungsvolles deutsches Team und dazu noch der Heimvorteil – wir spielen um den Titel mit, jubilieren die einen. Spätestens in der Zwischenrunde ist definitiv Schluss – meinen andere, die sich als Realisten bezeichnen.


Ja, es ist schon ein eigen Ding, Voraussagen über den Ausgang des 18-tägigen Turniers abgeben zu wollen. Am einfachsten erscheint es noch an der Spitze. An Dänemark, den Olympiasieger von Tokio und dreifachen Weltmeister des letzten halben Jahrzehnts (2019, 2021 und 2023) führt natürlich kein Weg vorbei. Selbst wenn es für „Danish Dynamite“ bei europäischen Titelkämpfen zuletzt nicht so richtig rund lief. 2022 sprang, an den hohen eigenen Ansprüchen gemessen, „nur“ Rang drei heraus, davor gab es sogar das Vorrunden-Aus (2020) und Rang vier (2018). Diesmal jedoch soll, da schlägt der dänische Ehrgeiz durch, erstmals das Championat des Kontinents gewonnen werden. Koste es, was es wolle. Frankreich und Spanien (Europameister von 2018 bzw. 2020) zählen ebenfalls zum Favoritenkreis, genau wie Titelverteidiger Schweden.


Beim deutschen Team wird es, wie eingangs festgestellt, schon schwieriger. Die Tendenz ist klar: Nur noch vier Europameister von 2016 stehen im Kader. Dagegen sind sieben Spieler 22 Jahre alt und jünger – neben den vier Junioren-Weltmeistern von 2023 David Späth (Rhein-Neckar Löwen), Renars Uscins (Hannover), Nils Lichtlein (Füchse Berlin) und Justus Fischer (Hannover) sind das auch Juri Knorr (Rhein-Neckar Löwen), Julian Köster (Gummersbach) und Martin Hanne (Hannover). Fünf von ihnen haben noch nie ein großes Turnier im Männerbereich gespielt, Hanne hatte bis zu den Portugal-Tests Anfang 2024 nicht mal ein Länderspiel auf dem Konto. Ist das riskant? Gewiss. Und ziemlich mutig.


Dies seien die besten Handballer, die er gerade finden kann, sagt Alfred Gislason, der deutsche Nationalcoach. Trotzdem ist manche Entscheidung aus der Not heraus getroffen: Könnte der Isländer tatsächlich aus den besten Handballern des Landes wählen, wäre vielleicht der ein oder andere Junioren-Weltmeister weniger dabei. Und auch kein zunächst mächtiger Block mit vier Spielern des Tabellensechsten der Bundesliga aus Hannover (Marian Michalczik fiel noch kurzfristig aus). Dafür aber vermutlich die Abwehrstrategen Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek (beide THW Kiel) oder die Rückraumspieler Fabian Wiede, Paul Drux (beide Füchse Berlin) und Luca Witzke (Leipzig). Dass sich vor großen Turnieren einige der Besten verletzen oder nicht rechtzeitig fit werden, ist gute deutsche Tradition. Andere wollen nicht mehr.


Der letzte Titel für die deutsche Nationalmannschaft stammt aus dem Januar 2016, die letzte Medaille aus dem folgenden Olympia-Sommer: Nach dem Abschied von Dagur Sigurdsson gelang Christian Prokop noch einmal eine Halbfinal-Teilnahme. Danach gab es nichts mehr. Selbst ein Gislason, als Vereinscoach mit dem SC Magdeburg und dem THW Kiel ein Riese seines Gewerbes, lief dem absoluten Erfolg bislang hinterher. Schaut man sich die bisherigen Platzierungen unter seiner Regie an, liest sich das zumindest nicht atemberaubend. Bei Großturnieren langte es 2021 zu einem 12. und zwei Jahre später zum 5. Platz bei den letzten beiden Weltmeisterschaften, sowie Rang 7 bei der EM 2022. Bei den Olympischen Spielen von Tokio 2020 hingegen musste man bereits im Viertelfinale gegen Ägypten enttäuschend die Segel streichen.


Nun also die Heim-EM. Der erste Stresstest für die junge Mannschaft könnte nicht größer sein: Am 10. Januar, wenn es losgeht, trifft Deutschland zum Auftaktspiel auf die Schweiz. Nicht in irgendeiner Handballhalle, sondern vor mehr als 50.000 Zuschauern im Düsseldorfer Fußballstadion – ein neuer Weltrekord für diese Sportart. Mehr Druck geht kaum, und vielleicht braucht ein deutsches Team dann umso mehr die Begeisterung im eigenen Land, die viele noch von den Heim-Weltmeisterschaften 2007 und 2019 kennen. Dass sich diese besonders gut wecken lässt mit jungen Handballern, die gerade selbst ein WM-Turnier gewonnen haben und bei jeder Aktion spielen, als gäbe es kein Morgen mehr, ist eine zulässige Vermutung.


Dennoch, zu den Medaillenanwärtern zählen die Deutschen nicht. „Aus meiner Sicht gehört sie nicht zum Favoritenkreis”, sagt selbst Uwe Gensheimer, der möglicherweise beste Linksaußen, den dieses Land je hatte. „Es wird die Frage sein, ob sie die unbestritten vorhandene Qualität im gesamten Turnier und in jedem Spiel über 60 Minuten auf die Platte bringen.“ Nur dann wäre es möglich, mit Handball-Übermächten wie Dänemark oder Frankreich mitzuhalten. Auch Spielmacher Juri Knorr wich der Qualitätsfrage zuletzt in der „Frankfurter Allgemeinen“ nicht aus. Sportlicher Erfolg sei nicht planbar, sagte der 23-Jährige. „Natürlich haben wir eine talentierte Truppe, aber jetzt auch keine Mannschaft, die Weltklasse bewiesen hat in den letzten Jahren.“


Es sind zwei Dinge, die den Deutschen zur absoluten Spitze fehlen. Zum einen die Abwehr. Deren Agieren monierte Gislason nicht erst seit den letzten beiden Tests gegen Portugal. Eine der größten Baustellen dabei: die fehlenden Alternativen im Innenblock. Zum anderen: Es fehlen in den Reihen des DHB-Teams die absoluten Stars. Leute, die, wenn es sein muss, aufgrund ihrer individuellen Qualität auch einmal ein Spiel fast im Alleingang entscheiden können. „Sport Bild“ hat kurz vor EM-Beginn eine Top-Ten-Liste der besten europäischen Spieler aufgestellt. Darin finden sich zwar Namen wie Gidsel, Landin, Karabatic, Sagosen, Dujshebaev und Kristjansson. Wenig überraschend taucht aber kein einziger (!) Deutscher auf. Überraschend außerdem: Nur drei der zehn Top-Akteure stehen derzeit in der Bundesliga („die stärkste Liga der Welt“) unter Vertrag.


Aus dem deutschen Team, das im Januar vor fünf Jahren Vierter in Dänemark wurde, ist auf zentraler Position nur Torwart Andreas Wolff geblieben. Uwe Gensheimer, Martin Strobel, Steffen Weinhold, Patrick Wiencek, Hendrik Pekeler: alle Handball-Rentner oder auf dem Weg dahin. Über die letzten beiden Jahre hat Gislason seine Achse gebildet. Es schwingt Stolz mit, Julian Köster und Juri Knorr in jungen Jahren als Nationalspieler etabliert zu haben – und das in der bekannten Problemzone, dem Rückraum. Wolff, Golla, Knorr und Köster bilden „eine Achse, die in jeder Nationalmannschaft der Welt spielen würde“, hob DHB-Sportvorstand Axel Kromer hervor. Ankommen wird es in den Tagen der kontinentalen Handballmesse darauf, ob das Niveau sinkt, wenn die Stars eine Pause bekommen und die zweite Geige übernimmt.

 

Erneut fällt auf, dass gerade die bestimmenden Teams der Bundesliga im EM-Kader zahlenmäßig nicht so vertreten sind, wie es der Hierarchie entsprechen würde. Nur je ein Spieler ist vom THW Kiel (Rune Dahmke), von der SG Flensburg (Johannes Golla) und den Füchsen Berlin (Nils Lichtlein) dabei. Lukas Mertens und Philipp Weber vertreten den SC Magdeburg. Wieder an Bord ist der On-off-Nationalspieler Weber, der im Sorgen bereitenten linken Rückraum antreten soll, obwohl er nach Ansicht der DHB-Verantwortlichen im Nationaltrikot selten überzeugte. Doch sieht der Bundestrainer in ihm jemanden, der das Spiel schnell machen kann. Insgesamt ist der SCM jedoch mit einer wahren Macht beim Championat vertreten. Sage und schreibe 15 Akteure aus sieben Nationen stellt Trainer Bennet Wiegert für das Turnier ab.


Genervt wirkte der Bundestrainer zuletzt davon, dass offen über das hochfliegende Ziel „Halbfinale“ gesprochen wurde – auch von der Verbandsführung. Gislason: „Wir haben zuletzt viel über Träume geredet. Das Ziel des Trainers ist, das erste Spiel zu gewinnen.“ Der 64-Jährige ist seit Anfang Februar 2020 im Amt. Sein Vertrag umfasst neben der Heim-EM jetzt auch die Olympischen Spiele in Paris, für die sich die DHB-Auswahl im Frühjahr aber noch qualifizieren muss. Im vergangenen Januar hatte DHB-Präsident Andreas Michelmann angedeutet, den Vertrag mit Gislason möglichst schnell verlängern zu wollen. Dazu war es jedoch nicht gekommen. Gislason hat nun kurz vor der EM betont, gern Bundestrainer bleiben zu wollen. Er könne sich „gut vorstellen, bis 2027 mit der Mannschaft zu arbeiten. Es macht sehr viel Spaß. Und ich bin sicher, dass wir viel erreichen können.” Er sehe großes Potenzial und die Chance, „auf lange Sicht bei jedem Turnier um die Medaillen zu spielen”. 2027 findet die Handball-WM in Deutschland statt.


Neben den sportlichen verbindet der DHB ideelle und finanzielle Ziele mit dieser EM. Dabei schaut der Verband zufrieden auf die bisherigen Kartenverkäufe. 80 Prozent Auslastung ist der Plan, sagt Vorstand Mark Schober, damit würde es in Richtung substanzieller Gewinne gehen, der Break-even lag bei 66 Prozent. Für die deutschen Spiele gibt es längst keine Karten mehr. Schober: „Wir sind als Verband wirtschaftlich sehr abhängig vom Erfolg der A-Nationalmannschaft Männer.“ Der Etat der EM werde bei 28 Millionen Euro liegen. Die EM fällt in das vom Verband deklarierte „Jahrzehnts des Handballs“ in Deutschland. Die Sportart soll „gesellschaftlich relevanter“ gemacht werden. Sportlicher Erfolg könnte da jedenfalls nicht schaden. Genau so wenig wie beim Verbandsziel, im Wettstreit mit Basketball und Eishockey um die Sportart Nummer zwei hierzulande die Nase knapp vorn zu behalten. Gute Einschaltzahlen bei den übertragenden Sendern ARD/ZDF könnten helfen, wobei der Übertragungsbeginn für heftige Kritik gesorgt hat: „Die Anwurfzeit um 20.45 Uhr ermöglicht uns eine insgesamt höhere Reichweite“, erklärt Schober in der „FAZ“, „dass das für Kinder leider recht spät ist, wissen wir – aber wir können den Konflikt nicht auflösen.“ Auch im Handball gilt schließlich: Geld regiert die Welt.

Seite 28, Kompakt Zeitung Nr. 247, 9. Januar 2024

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