Auf in den Osten!
Michael Ronshausen
Betrachtet man aus heutiger Sicht die frühe Entwicklung des Magdeburger Straßenbahnverkehrs – immerhin vor nunmehr bald 150 Jahren –, muss man feststellen, dass das neue, aber seinerzeit noch in den Kinderschuhen steckende System von Anfang an bis an die Grenzen des Stadtgebiets ausgerichtet war. Bereits ab 1877 rumpelten die Straßenbahnwagen nicht nur durch den Innenstadtbereich, sondern auch bis in die traditionellen Vororte, in die Neue Neustadt, nach Buckau und nach Sudenburg. In den ersten beiden Betriebsjahrzehnten, es waren die letzten des 19. Jahrhunderts, wurde der Verkehr noch ausschließlich mit Muskelkraft – und wenn man so will nach einem uralten, aber bewährten System – am Laufen gehalten, nämlich mit einer Heerschar von Pferden. Wirklich neu waren zu diesem Zeitpunkt nur die Gleise. Offenbar hatte sich auch die neue Wortmarke „Straßenbahn“ damals noch nicht durchgesetzt. Das erste Unternehmen, dass in der Elbestadt eine „Straßenbahn“ betrieb, war die Magdeburger Pferde-Eisenbahn-Gesellschaft. Der vielleicht etwas holprig klingende Firmenname wurde zumindest dem wichtigsten Arbeitnehmer – nämlich dem Pferd – durchaus gerecht.
In den Jahren nach dem Betriebsbeginn 1877 wurde das Netz nach und nach auch innerstädtisch erweitert. Dies geschah jedoch nun nicht mehr unter der Regie des „Pferde-Eisenbahn“-Unternehmens. Mit der Magdeburger Trambahn-Aktiengesellschaft hatte sich in der Mitte der 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts ein agiler Konkurrent etabliert. Einen kollegial-freundlichen Umgang scheinen die beiden Firmen jedoch nicht immer miteinander gepflegt zu haben. Als sichtbarstes Symbol für eine zeitweilige und deutliche Abgrenzung kann beispielsweise das Gebiet rund um den späteren Hasselbachplatz – damals noch als Gabelung bezeichnet – herhalten. Auch hier fuhren die bereits 1877 eingerichteten Linien. Ab 1886 installierte dann die neue „Trambahn“-Firma (auch bei ihr waren Pferde weiterhin das Antriebsmittel) eine zweite innerstädtische Nord-Süd-Verbindung, nämlich über die Kaiserstraße, die heutige Otto-von-Guericke-Straße. Nur wenige Meter vor der „Gabelung“ endeten jedoch die Gleise der „Trambahn“. Wer in Richtung Buckau oder Sudenburg weiterfahren wollte, musste nicht nur die Linie wechseln, sondern sogar das Unternehmen.
Erheblich mehr Erfolg hatte die Trambahn-Firma schließlich beim Vollzug des großen Schritts über die Elbe. Flüsse verbinden Menschen auf vielerlei Art, oft wirken sie aber auch als nur schwer zu überwindende Grenze. So hatte beispielsweise das am Anfang der Geschichte stehende „Pferde“-Unternehmen kein Interesse, auch die östlichen, eben jenseits der Elbe gelegenen Stadtviertel in das neue Verkehrssystem einzubinden. Dies mag verwunderlich erscheinen, immerhin existierten mit der Hubbrücke und der Herrenkrug-Eisenbahnbrücke (letztere galt als eine der modernsten ihrer Art) bereits zwei Schienenwege über die Elbe. Hier zog die „Trambahn“ bald nach und „eroberte“ ab 1884 straßenbahnmäßig auch den Osten der Stadt. Zuerst auf dem Werder, entlang der heute noch existierenden Mittelstraße, zwei Jahre später dann über einen langen Bogen bis zum Ende der Herrenkrugstraße. Hier deutete sich ab 1886 auch erstmals ein langfristiger Wechsel beim „Energielieferanten“ an. Für die recht lange Strecke bis ins gehobene Magdeburger Freizeitparadies waren Pferde nicht mehr die erste Wahl. Das letzte – und größere – Teilstück der Strecke wurde zwar noch nicht durch elektrischen Strom, aber nun immerhin schon Dampfkraft bewältigt.
Mit dem umfangreichen Siedlungsbau in Cracau geriet vor rund 100 Jahren auch die – nun längst mit Strom betriebene – Straßenbahn wieder ins ostelbische Interesse. Der praktisch neu errichtete Stadtteil und die umfangreichen diakonischen Einrichtungen der Pfeifferschen Stiftungen sorgen ab 1927/28 für den Bau einer neuen Strecke bis zum Pechauer Platz, die im November 1928 ihren Betrieb aufnahm. Bereits ab 1903 war auf der Elbbrücke (Königsbrücke) des neuerrichteten Nordbrückenzuges auch ein zweiter Übergang für die Straßenbahn eingerichtet worden. Hier entstand der nördliche Straßenbahnanschluss des Werders mit der zeitweiligen Einrichtung eines regelrechten Kreisverkehrs. Zwei Jahrzehnte später leistete sich Magdeburg nach der Herrenkrug-Freizeitstraßenbahn noch einmal eine weniger nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten motivierte Linie. Über die neu errichtete Stern-/Ebert-/Hitler-Brücke fuhr nun auch eine Straßenbahn in den Stadtpark Rotehorn. Vergönnt waren dieser Brücke nur gut zwei Jahrzehnte. 60 Jahre nach ihrer Zerstörung im Krieg wurde dieser Elbübergang völlig neu errichtet, die Straßenbahnschienen wurden beim Bau leider völlig vergessen.
LINIE 4 & 6 / Fakten & Historie
Strecke über die Elbe:
• Brückenzug Zollelbe und Anna-Ebert-Brücke wurde 1882 eröffnet
• ab 1884 rollten auch Straßenbahnen über den Brückenzug – bis zur Betriebseinstellung 2021 im Zuge des Pylonbrückenbaus
• Strecke 1884: Pferdestraßenbahn zwischen Wilhelmstadt (heute Stadtfeld Ost) und Friedrichstadt (heute Brückfeld)
• Elektrifizierung der Strecke 1899
• 1945 musste der Betrieb wegen Kriegsschäden eingestellt werden
• Wiederaufnahme des Betriebs nach der Wiederherstellung der alten Strombrücke 1946
• seit 6.10.1965 Straßenbahnbetrieb über die Neue Strombrücke und über die „provisorische“ Ost-Rampe herunter zur Zollbrücke – das „Provisorium“ hielt bis 2021 an
• seit 22.12.2023 fahren Straßenbahnen über die neue Pylonbrücke
Strecke nach Cracau:
• Eröffnung am 13.11.1928
• Strecke bog an der Anna-Ebert-Brücke nach Cracau zum Pechauer Platz ab
• Start der Eröffnungsfahrt damals vom Johanneskirchhof
• seit 1928 Linie 15 vom Olvenstedter Pl. über Hauptbahnhof nach Cracau
• ab 1939 Linie 4 nach Cracau, Linie 15 zwischen Hbf und Friedrichstadt (heute Berliner Chaussee, Haltestelle Arenen)
• kurze Unterbrechung: zwischen 2015 und 2017 verkehrte die Linie 6 nach Cracau, die Linie 4 zum Herrenkrug (Hintergrund war die Liniennetzumstellung im Rahmen der Tunnelbaustelle)
• wichtigste Einrichtung entlang der Strecke: Pfeiffersche Stiftungen
Strecke zum Herrenkrug:
• Eröffnung 14.07.1886 als Dampfstraßenbahnstrecke
• Strecke wurde von der Friedrichstadt (heute Brückfeld) am Heumarkt ins „Grüne“, zum Herrenkrug verlängert
• Strecke war als reiner Ausflugsverkehr vorgesehen
• Dampflokomotiven wurden vor Wagen der Pferdebahn gespannt
• die Strecke endete eingangs mit zwei Stichgleisen, erst 1909 wurde eine Wendeschleife gebaut
• ab 1900 wurde die Strecke elektrifiziert und die Dampfbahn verschwand
• die imposante hölzerne Wartehalle an der Endstelle Herrenkrug erinnert an die Dampfbahnzeit
• zur BUGA 1999 wurde die Strecke erneuert und eine Wendeschleife direkt am Messegelände eingerichtet
• zum Elbhochwasser 2013 musste der Betrieb für mehrere Monate, bis März 2014, eingestellt werden
Viele Infos dazu kamen von der IGNah e. V. und dessen Mitglied Ralf Kozica.
Seite 16, Kompakt Zeitung Nr. 248, 24. Januar 2024