Lernziel: Demokratie

Von Prof. Dr. Markus Karp

Vertrauen und Zustimmung zur Demokratie nehmen offenbar ab. Ein Klima von Unterstellungen, Zuspitzungen und Ausgrenzung greift um sich. Die Diskursethik erodiert. Dagegen reagiert man vielerorts politisch mit einer Art pädagogischer Demokratieunterweisung. Das ist kein geeigneter Weg, um für das gesellschaftliche Kompromissmodel zu werben.

Foto: Sergey Kohl

Wohin man auch blickt: Lokal wie global sind Demokratien unter Druck. Autoritäre Regime strotzen vor Kraft und sind teils schon von der bloßen Drohung zum tatsächlichen militärischen Angriff übergegangen. Liberale Verfassungsordnungen werden von Populisten herausgefordert, gewachsene Institutionen und Bündnissysteme lahmgelegt oder in Frage gestellt. Die Fortschreibung der demokratischen Gegenwart in eine unbestimmte Zukunft, eben noch ein geradezu natürliches Axiom im Denken der Meisten, ist nicht sicher, denn der Flirt mit dem Autoritären verlockt viele, die des ewigen Aushandelns und Schließens vermeintlich kompromittierter Kompromisse überdrüssig sind. Dialog, Diskurs, Debatte, diese klassischen Instrumente gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Fortschritts, werden oft eingefordert, aber noch öfter nicht gelebt. Stattdessen gibt es einen Drang zum manichäischen Denken und zur öffentlichen Provokation, die das eigene Profil schärft, aber keinen Raum mehr lässt für das Zulassen und Aushalten anderer Sichtweisen. Der Wunsch nach dem Bekennen und Zurschaustellen der eigenen Überzeugung übertönt alle Diskursethik, die doch dringend notwendig wäre, um die Erosion der demokratischen Gesellschaft aufzuhalten.


Diese Megatrends westlicher Demokratie betreffen naturgemäß auch die Hochschulen als Knotenpunkte aller Bereiche moderner Gesellschaften. Ideenwettstreit und Erkenntnisehrgeiz werden überschattet vom Ringen darum, wer was sagen darf. Damit einher geht eine ritualisierte Auseinandersetzung um die Verteidigung oder bewusste Störung des Tabus, ohne dass es eine Rolle spielen würde, welcher diskursive Mehrwert aus der einen wie der anderen Handlung erwächst. Im Vordergrund stehen auch hier die Selbstvergewisserung und die Imprägnierung der eigenen Position gegen die Zumutung des abweichenden Arguments. Diese Tendenzen einseitig einer Strömung und einem Lager zuzuweisen, führt in die Irre. Die Befähigung zum zumindest halbwegs höflichen Streit ist verkümmert, abgelöst vom digital befeuerten Aufbrausen mit Signalwirkung vor allem für die eigene Zelle der fragmentierten Öffentlichkeit.


Angesichts dieses desolaten Bildes stellt sich die Frage, wie ein „Lernziel: Demokratie“ mit der Absicht, für Abhilfe zu sorgen, denn aussehen könnte. Dabei wäre es falsch, in die Nostalgiefalle zu tappen: Auch die vordigitale Demokratie war kein Proseminar in Sachen Rhetorik und argumentativer Vernunft. Verkürzung, Zuspitzung, Unterstellung, Ausgrenzung, das Gefühl rasenden Stillstands – es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, ein demokratisches System zu irgendeinem Zeitpunkt zu finden, dem diese Phänomene fremd wären. Damit alle Probleme zu relativieren wäre indes ähnlich abwegig. In der Gesamtschau der vielen Untersuchungen zur Demokratiezufriedenheit zeigt sich unzweifelhaft mehrheitlich der Schluss, dass Vertrauen und Zustimmung zu dieser Staatsform abnehmen. Demokratie als Lernziel kann sich angesichts dessen aber nicht als Werbeveranstaltung verstehen, welches von der Vorschule bis zum Hörsaal die Vorzüge der Volkssouveränität preist. Das ist auch nicht nötig. Denn Unzufriedenheit und Fremdeln mit der Demokratie fußen auch darauf, dass der ubiquitär verwendete und oft genug zum inhaltsleeren Kampfbegriff geronnene Term oftmals unverstanden ist. So wird Demokratie zu einer abstrakten Chiffre des Positiven, alles negativ Aufgefasste hingegen als undemokratisch angesehen. Demokratisch ist in diesem Sinne kongruent mit dem eigenen Werturteil und Normempfinden. Das muss natürlich oft genug in Enttäuschung münden, zumal zu Prozessen und Institutionen häufig banalste Grundkenntnisse fehlen. Das führt dazu, dass das Warum einer demokratischen Entscheidung nicht verstanden wird. Den Institutionen wiederum, deren Bestehen die Voraussetzung des demokratischen Systems sind, wird mit weniger Respekt begegnet. Dies liegt darin begründet, dass ihre Legitimität durch das Verständnis ihrer Fundamente, also die Legitimationskette von der Wahlurne an, entsteht. Fehlt dieses Verständnis, werden die Institutionen der Demokratie zu bloßen Avataren politischer Stimmungen anstatt deren regulierender Überbau zu sein. Politische Idolisierung und Zorn, die beiden Pole politischer Passion, übertragen sich dann auf Institutionen, die auf keine der politischen Konjunktur enthobene Ehrerbietung mehr zählen können und dementsprechend nur noch so viel Popularität genießen wie die Strömung, welche gerade ihre Leitung innehat oder sie dominiert. Diese Differenzierung ist aber notwendige Bedingung für die Existenz der liberalen Demokratie, welche durch starke überparteiliche Institutionen die Leidenschaft volatiler Mehrheiten einhegt und auch für statische oder zeitweilige Minderheiten erträglich macht.


Deshalb ist es bestürzend, dass ausgerechnet in einer Ära, in welcher Wissen zugänglich ist wie nie und die Hürden für den Zugang zu Bildungsinstitutionen niedriger sind als je zuvor, ausgerechnet das Allgemeinwissen und die Grundkenntnisse zur Demokratie, der realexistierenden und nicht nur dem allgegenwärtigen Schlagwort, immer dünner werden. Dabei geht es nicht um elaborierte Demokratietheorien, fortgeschrittene Kenntnisse politikwissenschaftlicher Komparatistik oder eine vertiefte Beschäftigung mit Ideengeschichte. Zum Verständnis von Demokratie und der daraus resultierenden Fähigkeit zum konstruktiven Mitwirken am demokratischen Aushandlungsprozess würde wesentlich grundlegenderes Wissen genügen. EGMR von EuGH unterscheiden zu können, wäre da schon die Kür, könnte aber beispielsweise dazu führen, dass nicht jeder Unmut über ein Urteil beim Feindbild EU verortet werden würde. Aber bereits einfachere Kenntnisse, so zum Beispiel, welche bundesrepublikanische Institution welcher Gewalt zuzuordnen ist, können nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Damit einhergehend verfällt jedoch die Möglichkeit, Entscheidungen zuzurechnen, was wiederum Demokratieverdrossenheit begünstigt.


Im Idealfall würde ein „Lernziel Demokratie“ dazu auch noch eine Debattenkultur im besten Habermasschen Sinne vermitteln. Sinnvolle Ziele sind aber nach Drucker immer SMARTe, mithin auch realistische Ziele. Die Bildungseinrichtungen vermögen es nicht, sich im Alleingang gegen die Kalamitäten unserer Epoche zu stemmen. Die Folgen der Social-Mediatisierung unserer Debattenkultur, der Vielzersplitterung und Tribalisierung als Kehrseite von mehr Individualisierung und der Auflösung traditioneller Großmilieus aufzuhalten, werden Schulen und Hochschulen nicht leisten können, da sie letztlich auch immer Spiegel ihrer Umwelt sind.


Was sie aber für das „Lernziel: Demokratie“ leisten können, ist klar: Es geht um basales Faktenwissen. Verhältniswahlrecht, Föderalismus, Bündnissysteme, später die wichtigsten Artikel des Grundgesetzes, der Europäischen Verträge, solche Dinge. Ein Überblick über die US-Verfassung könnte grassierenden Antiamerikanismus und wuchernde Klischees eindämmen helfen. Vieles davon ließe sich zwar ohne Weiteres autodidaktisch erschließen. Offenkundig aber konkurriert Faktenwissen online oftmals erfolglos mit Vereinfachung und Verschwörungstheorien. Simples, aber grundsolides Wissen über die Funktionsweisen, Prinzipien und Institutionen der Demokratie ist gewiss keine Gewähr für eine demokratische Gesinnung. Aber so, wie die Alphabetisierung Voraussetzung, wenn auch nicht Garantie für das Verstehen eines Buches ist, braucht es das Verständnis der Demokratie, um an ihr überhaupt teilhaben zu können und bestenfalls auch noch zu wollen.


Der Autor Markus Karp ist an der Technischen Hochschule Wildau Professor für Public Management und Staatssekretär a. D.

Seite 4/5, Kompakt Zeitung Nr. 249

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