Die Dialektik der Verwaltung

Thomas Wischnewski

Öffentliche Verwaltungen sollen modern sein, transparent und bürgernah. Die Schlagworte klingen sympathisch. Doch existieren innere Mechanismen, deren Eigenleben kritisch beäugt werden muss.

Staatliche Verwaltungen – egal, ob auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene – mögen sich in den vergangenen 30 Jahren in Funktionen und Abläufen stark gewandelt haben. Man unterliegt in Amtsstuben ebenso einem Anpassungsdruck in Kommunikation, Struktur und Personalorganisation wie andere gesellschaftliche Lebensbereiche auch. Behörden erfüllen wichtige Aufgaben innerhalb einer funktionalen Organisation unseres Zusammenlebens. Allerdings wirken in ihren gesetzten Strukturen Mechanismen, deren Ergebnisse auf Bürger und außenstehende Betrachter manchmal komisch oder teilweise grotesk erscheinen können. Deren Ursachen werden von psychologisch-sozialen Gesetzmäßigkeiten hierarchischer Unterstellungsverhältnisse und normativen Bedingungen angetrieben und sie erwecken den Eindruck, als würde in der Bürokratie ein immer gleich tickendes Uhrwerk existieren.


Hier seien einige Wechselwirkungen aufgezeigt, die unter der besonderen Hierarchie und Organisation öffentlicher Verwaltungen, Züge gesetzmäßiger Prozesse vermuten lassen. Bereits im Jahr 1969 beschrieb der amerikanische Pädagoge, Schulpsychologe und spätere Uniprofessor, Laurence J. Peter, die These, dass „nach einer gewissen Zeit jede Position von einem Mitarbeiter besetzt wird, der unfähig ist, seine Aufgabe zu erfüllen“. Das soll nun nicht heißen, dass an jeder Stelle irgendwann nur noch unfähige Mitarbeiter säßen, sondern eher auf eine dienstrechtliche Problematik hinweisen. Aufgrund von Unflexibilität arbeitsrechtlicher Eingriffe könne innerhalb der öffentlichen Hand – selbst beim Erkennen persönlicher Mitarbeiter-Defizite – selten Arbeitsplatzveränderungen und noch weniger Kündigungen vorgenommen werden. Die größte Hürde stellt hier zusätzlich das System der Verbeamtung dar. Während Unternehmen und andere Institutionen zur Schadensabwendung Mitarbeitern kündigen können, bleiben Beamte in Dienstrang, Stellung und Besoldung unbeschadet.


In der politischen Sphäre wird das traditionelle deutsche Beamtentum gern mit dem Argument verteidigt, dass man „treue“ Staatsdiener nur mit einem Gegenwert an Sicherheit bekommen könne. Nur ist diese rechtliche Ausnahmestellung eben vor allem ein machtsicherndes Rechtskonstrukt und eines der größten Hemmnisse für Flexibilität und erforderliche Ambivalenz der staatlichen Organisation. Letzteres wird kaum eingestanden und öffentlich formuliert. Ein wichtiger Grund dafür kann die enge personelle Verflechtung des politischen und Verwaltungspersonals sein. Rekrutieren sich doch häufig Mitglieder von Parlamenten aus Verwaltungen bzw. kehren Abgeordnete in den Staatsdienst zurück, weil sie zuvor verbeamtet waren.
Man kennt die Rechtfertigung und Klage, dass zu wenige den Mut hätten, politische Verantwortung zu übernehmen und man daher froh sei, dass sich wenigstens Menschen aus der öffentlichen Verwaltung bereit erklärten, in der Politik mitzuarbeiten. Diese Apologie klingt vordergründig zwar schlüssig, nutzt am Ende jedoch eher einer weiteren Verkrustung und Sicherung bestehender Strukturen.


Augenmerk muss man bei der Betrachtung von Verwaltungen auch den Hierarchien widmen. Strikte Unterstellungsverhältnisse, Kompetenz- und Zuständigkeitsbündelung erzeugen manchmal eine Dynamik einer Art irritierender Selbstfesselung. Ein Beispiel: Gleichstellung wird derzeit politisch großgeschrieben. Quer durch alle Parteien genießt die Forderung für Frauen-Förderung hohe Priorität. Die Politik stellt für die zunächst rein politische Botschaft Geld in öffentlichen Haushalten zur Verfügung. Jetzt sind Verwaltungsbeamte gefordert, entsprechende Förderrichtlinien zu erarbeiten, damit Frauen der Weg in die Selbstständigkeit erleichtert wird. Die Vergabe-Normen werden dem politischen Willen untergeordnet. Förderinstitute und öffentliche Banken sollen nach Prüfung gemäß den Richtlinien über entsprechende Anträge entscheiden. An dieser Stelle stutzen Fachleute, weil sie im Detail Schwächen erkennen, nach denen Frauen Gelder erhalten würden, die Männer unter wirtschaftlichen Prüfkriterien nie bekommen hätten. Hinweise von erfahrenen Finanzfachleuten werden auf ministerieller Ebene mit dem Verweis auf den politischen Willen, Frauen zu fördern, zurückgewiesen und schließlich solle das bereit gestellte Geld ausgegeben werden. Am Ende werden solche Prozesse dann anhand der Zahlen als politischer Erfolg verkauft. Die tatsächliche Wirksamkeit oder eine unsinnige Mittelvergabe ist kaum noch auf dem Prüfstand.


Dem Bürger sind die meisten Amtsgebäude ohnehin kafkaeske Schlösser, und Entscheidungen werden von dort permanent unpersonifiziert ausgeatmet. Erlasse, Verordnungen oder Durchführungsbestimmungen bauen vielfach auf statistische Erhebungen und theoretisierende Berichte, aber wenig auf lebensnahe Wirklichkeit. Gab es beim Aufbau der Verwaltungen nach der Wende noch zahlreiche Menschen, die aus unterschiedlichsten praktischen Lebensbereichen in Ämter wechselten, sitzen heute vermehrt Verwaltungsfachwirte und juristische Dienstlaufbahn-Beamte an den Schreibtischen. Dies sind ganz sicher beflissene und kluge Menschen. Es ist jedoch ein wesentlicher Unterschied, ob jemand gesellschaftliche Prozesse abstrakt theoretisch durchdringt oder ob derjenige ein Milieu tatsächlich gefühlt hat und entsprechend facettenreiche, reale Erfahrungen machen konnte. Dieser Anhaltspunkt sollte bei aller fachlichen Kompetenz in einzelnen Verwaltungssachgebieten stets selbstkritisch beachtet werden.


Es kommt nicht so selten vor, dass junge, leistungsbereite Sachbearbeiter konzeptionelle Studien und Entscheidungsvorlagen erstellen, die in ihrer Argumentation höchst schlüssig klingen. Solche Mitarbeiter bringen in der Regel eine hohe Motivation mit, weil sie natürlich in der Hierarchie aufsteigen wollen. In puncto Zeitaufwand und Engagement legen sie sich mächtig ins Zeug. Dennoch kann sich das vorrangig aus theoretischem Wissen zusammengeführte Konzept nicht mit der Lebenswirklichkeit messen. Von Ebene zu Ebene werden solche Papiere dann als Entscheidungsgrundlage immer bedeutungsvoller. Von Schreibtisch zu Schreibtisch fließen weitere theoretische Fakten und Orientierungen in solche Vorlagen ein. Es muss also kaum verwundern, wenn aus solchen Konvoluten abgeleitete Vorschriften später mit normativer Kraft in das Leben von Menschen hineinregieren und sich widersinnig an der Realität reiben. In solchen Fällen ist dann der Wunsch in Verwaltungen groß, dass sich am besten das Leben und dessen Begleiterscheinungen den gesetzten Regeln anpassen sollten. Die erzeugte normative Kraft des Faktischen mündet zumeist in hilfloses Schulterzucken von Amtsträgern, die ihre Ohnmacht damit begründen, dass sie die Vorschriften nicht gemacht hätten. Die Delegierung von Zuständigkeiten und Verantwortungen ist in Verwaltungen derart undurchsichtig und komplex geworden, dass selbst Kenner im Inneren Schwierigkeiten haben, Ross und Reiter zu benennen.


Auf keinen Fall dürfen an dieser Stelle psychologische Wirkmechanismen ausgeklammert werden. Das Dienstverhältnis zwischen Vorgesetzten und Unterstellten erzeugt zwangsweise ein willfähriges Erfüllungsverhalten nachgeordneter Mitarbeiter. Schließlich möchte jeder für seine Leistungen Lob ernten. Ob die jeweiligen Vorgesetzten oder eine sogar noch weiter entfernte Instanz die Details erarbeiteter Konzepte oder Entscheidungsvorlagen nachvollziehen, prüfen oder kritisch werten kann, darf auf Sachbearbeitungsebene nicht infrage gestellt werden. Auf diese Weise entstehen abstrakt-theoretische Planspiele. Kein Verwaltungsangestellter oder -beamter möchte seine erarbeiteten Aktenvermerke, Einschätzungen oder Berichte ständig mit einem Hinweis auf Nachbesserung zurückerhalten. So etwas tut jedem in der Seele weh. Deshalb bemüht man sich, die Vorlagen möglichst so zu erstellen, wie es der Vorgesetzte vermeintlich am liebsten lesen will. Dafür entwickeln intelligente Mitarbeiter schnell eine ausgeprägte Sensibilität. Es darf also vermutet werden, dass amtliche Einschätzungen und Entscheidungsvorlagen schon oft so verfasst sind, wie man es „Oben“ gern lesen würde. Auch deshalb entfernen sich verwaltungstechnische Erklärungen und Vorgaben immer wieder vom Lebensalltag der Gemeinschaft.


Natürlich kommt keine Zivilgesellschaft und schon gar nicht die heutige, hoch differenzierte ohne Verwaltung aus. Offenbar werden innere Mechanismen nur zu selten überprüft und kritisch beleuchtet. In Sachen selbstkritischer Sicht gewinnt man den Eindruck, als seien amtliche Strukturen eher auf Rechtfertigung des eigenen Daseins und Abwehr von Kritik getrimmt. Fehler oder Mängeleingeständnisse von Vertretern aus den Verwaltungen hört man fast nie. Da bleibt nur die Vermutung, dass genau die beschriebenen dialektischen Interaktionen in Hierarchie und Organisationsfundamenten ein solches Verhalten prägen und fördern.

 

 

Der eingemauerte Staatsapparat fördert politische Ohnmacht

Der obenstehende Text entstand im Mai 2015 und wurde in der 1. Juni-Ausgabe dieser Zeitung veröffentlicht. An den darin beschriebenen Mechanismen hat sich nichts geändert. Deshalb soll er hier noch einmal veröffentlicht sein. Inzwischen zeigt sich neben Verkrustungen im Verwaltungsapparat mehr und mehr die Ohnmacht der politischen Führung gegenüber der Macht der Exekutive. Zugleich hat sich ein immer engeres Korsett an gesetzlichen Regeln um jede Handlungsmöglichkeit gelegt. Anstatt Bürokratie abzubauen – wie weithin gefordert wird – entsteht immer mehr. Allein die Personalkosten der Bundesregierung inklusiver ihrer Ministerien angegliederten Behörden hat sich von 2012 von 28 Milliarden Euro auf nun 45 Milliarden Euro erhöht. Gleichfalls werden den unteren Ebenen wie beispielsweise den Kommunen ständig neue bzw. kompliziertere Aufgaben und Verwaltungsaufwand übertragen.


Der Aufwuchs staatlicher Regulierung ist derart gigantisch, dass der behördlichen Verflechtung, der rechtlichen Regelflut und dem Dienstrecht mit seinem Schutz öffentlich Bediensteter kaum mehr mit wirksamer Veränderung begegnet werden kann. Und dieses Phänomen zieht sich durch alle Ebenen der Gesellschaft. Wird dennoch ein Vorstoß gewagt, hagelt es in der Regel eine Klage oder Beschwerde vor der Verfassungsgerichtsbarkeit.


Es muss ebenso angenommen werden, dass diese Unbeweglichkeit des Staatsapparates dazu beiträgt, dass notwendige pragmatische Veränderungen und Anpassungen an dynamische Veränderungen in der hiesigen Gesellschaft als auch international nicht mehr gelingen. Zum Motto „Schutz der Demokratie“ gehört eben auch, dass bestehende staatliche Institutionen als unantastbar gelten und damit eine Anpassung an veränderte Bedingungen – was übrigens gern vom Bürger gefordert wird – nicht geschieht. Unter diesem Stillstand wuchern Diskrepanzen im Verhältnis zwischen staatlichem Apparat, Bürgervorstellungen und Wirtschaftsakteuren. Auch dies ist eine der Triebkräfte für das Erstarken der AfD. Die Bürger möchten keine Veränderung, argumentieren grüne Politiker, ohne selbstkritisch die eigene Ohnmacht vor dem Verwaltungs- bzw. Bürokratiemoloch benennen zu können. Die allgegenwärtige Ausuferung staatlichen Einflusses und zugleich Verfestigung dieser Stellung, befruchtet den Boden, auf dem autokratische und diktatorische Vorstellungen sprießen. Wenn sich in der Apparate-Macht nichts ändert, unterhöhlen leider auch solche das demokratische Gemeinwesen, das sie vermeintlich beschützen wollen.

Seite 4, Kompakt Zeitung Nr. 251, 6. März 2024

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