... eigentlich ist er lieb:
Von Menschen gemachtes Problemverhalten

Chico – ein Labrador-Rottweiler-Mix – wurde versehentlich auf einem Bauernhof nahe Magdeburg gezeugt. Erst mit anderthalb Jahren kam er zu seinem Besitzer, Herrn Mehltau. Er wuchs bis dahin reizarm auf und hatte zu dieser Zeit sein Verhalten bereits etabliert.
Herr Mehltau – alle Namen wurden aus Datenschutzgründen geändert – wollte dem Hund eine gute Erziehung vermitteln. Er wendete sich vertrauensvoll an eine Hundeschule, deren Trainer ihm eine respektvolle Hund-Mensch-Beziehung versprach. Herr Mehltau sollte lernen, seinen Hund zu verstehen und den Alltag mit ihm entspannt zu meistern. Ihm war klar, dass Chico seine Grenzen braucht, die ruhig und konsequent durchgesetzt werden müssen. Was er in der Hundeschule erlebte, brachte ihn allerdings ins Zweifeln. Mein Erstkontakt zu Chico bestätigte die Vermutung, dass das Problemverhalten, was der Hund zeigt, vom Menschen gemacht ist.
Die Erstbegegnung in meiner Neutralposition zum Hund war nicht möglich, da er schon in einer Dis-tanz von 20 Metern Warnzeichen anzeigte. Gesichert war Chico mit zwei Leinen und einem Maulkorb. Anschauen konnte ich ihn gar nicht, da er sofort mit einem Angriff auf den Körper drohte. Er attackierte Hände und Füße. Jegliche Bewegungen empfand der Hund als Bedrohung. Chico hatte zudem Angst vor Männern. Mit einem Stock oder Schlauch in der Hand auf ihn zuzugehen, war für ihn bereits eine Bedrohung. Laute Geräusche oder ein In-die-Hände-Klatschen bereiteten ihm ebenfalls Angst. Und er hatte gelernt, sich durch Aggression zu wehren – ein typisches Problemverhalten, das vom Menschen verursacht wird.
Um der Ursache auf den Grund zu gehen, hatte ich nach Chicos Begutachtung ein Gespräch mit Herrn Mehltau. Es dauerte eine Weile, bis er all seine Erlebnisse in der Hundeschule erzählt hatte. Und im Nachhinein war es ihm peinlich, dass er in Kauf genommen hatte, wie die körperliche und geistige Unversehrtheit des armen Chico durch gezielte Schreck- und Schmerzreize Schaden nimmt.
Herr Mehltau schilderte mir Folgendes: Chico wurde an einem Zaunpfeiler kurz angeleint. Der Besitzer sollte sich fünf Meter entfernen, dort mit einem Schlauch herumfuchteln und diesen auf etwas Blechernes werfen. Den Schlauch sollte er auch immer wieder auf Chico werfen… Des Weiteren sollte die Leine um den Bauch des Hundes gebunden werden, um bei der Begegnung mit anderen Hunden durch Ziehen Aggressionen zu vermeiden. Je weiter hinten an der Leine gezerrt wird, desto mehr tut es dem Hund weh… Auch ein Auf- den-Boden-Drücken sowie das Fixieren des Hundes schienen für diesen Trainer ein probates Mittel im Umgang mit Chico zu sein.
Unglaublich – aber bei diesen Maßnahmen wurden vom Trainer avisierte Reize eingesetzt, um eine schnelle Verhaltensänderung zu bewirken. Als avisierten Reiz bezeichnet man ein unangenehmes, widriges Ereignis, das Schmerz, Angst oder Vermeidungsreaktion auslöst.
Der Hund hatte so keine Chance, ein Alternativ-Verhalten zu zeigen, mit dem man hätte arbeiten können. Allerdings bezweifle ich, dass der Trainer dieses Verhalten erkannt hätte, da der Ansatz schon der falsche war. In der Hundeschule wurde also mit Angst noch größere Angst „gedeckelt” und Chico wurde in ein massives Meideverhalten vor Schreck- und Schmerzreizen gezwängt.
Wen wundert es also, dass sich Chico aggressiv verteidigt hat? Das war der einzige Ausweg, Schmerzen zu entgehen. Mich wundert allerdings, dass diese Hundeschule eine Zulassung nach §11 des Tierschutzgesetzes hat. In der Hundeschule wurde mit Erziehungsgeschirren, Stachel-, Sprüh-, und Stromhalsbändern, Rütteldosen, Schläuchen und sonstigem gearbeitet. Fingerstiche und Fußtritte gehörten zur Tagesordnung.
Aber Strafe bleibt Strafe, auch wenn diese nach außen schöngeredet und als „avisierte Reglementierung“ verpackt wird. Chico hatte Glück im Unglück. Herr Mehltau ist seinem Bauchgefühl gefolgt und hat darüber nachgedacht, dass da etwas ganz und gar nicht stimmt. Er konnte mit Chico kaum noch tagsüber auf die Straße gehen. Ohne Maulkorb erst recht nicht, denn in Übersprungshandlungen hat Chico auch nach seinem Herrchen geschnappt.
Wir haben nun einen neuen Plan für Chico und sein Herrchen aufgestellt. Ohne Hilfsmittel, ohne Zwang und ohne Schmerzen! Kleine Therapieeinheiten mit Wechsel zur Reizeinwirkung und Entspannung. Chico zeigte schnell, dass er sein aggressives Verhalten ablegen und ein akzeptables Alternativ-Verhalten zeigen kann. Mit diesem neuen Verhalten konnten wir arbeiten und es positiv verstärken.
Chico hat zudem schnell begriffen, dass er ab sofort seinem Menschen vertrauen kann, da Herr Mehltau ihm seinen stressigen Job abnimmt und ihm Schutz gibt. Er konnte den Blickkontakt zu seinem Menschen zunehmend aufbauen. Seine Individualdistanz hat sich auf drei bis vier Meter verringert. Sein neues Verhalten wurde generalisiert, so dass er nach acht Tagen bei provokanten Situationen neutral blieb. Erst jetzt konnte man Chico aktiv anfassen, ohne dass er ein aggressives Verhalten gezeigt hat. Ein Fortschritt für Mensch und Tier!
Leider musste Herr Mehltau Chico aus gesundheitlichen Gründen abgeben. Jedoch kam er zu einem erfahrenen jungen Mann, der mit ihm die Begleithund-Prüfung bestanden hat. Herzlichen Glückwunsch und alles Gute für Chico und seinen neuen Menschen!
Sollten Sie Fragen zu diesem Thema haben, wenden Sie sich gern an mich. Und Hundebesitzer, die an meinem Lernspaziergang für Gleichgesinnte teilnehmen möchten, können sich ebenfalls bei mir melden.
Mit hundefreundlichen Grüßen,
Kristeen Albrecht – Problemhundtherapeutin
www.kristeen-hundetrainerin.de
Seite 26, Kompakt Zeitung Nr. 251, 6. März 2024