Ich spreche Deutsch: Nur zur Hilfe - oder doch Mehr?

Von Dieter Mengwasser
Dipl.-Dolmetscher u. -Übersetzer

Regelmäßig wird in unserer Kompakt-Zeitung, aber auch in anderen Zeitschriften, etwas über Persönlichkeiten aus der Vergangenheit der Stadt Magdeburg geschrieben. Die Biografien geben uns Aufschluss über die Mitwirkung dieser Personen an den Ereignissen und Situationen der damaligen Zeiten, hauptsächlich der vergangenen Jahrhunderte.


Neulich fand ich in einem Bericht über eine Persönlichkeit diesen Satz (um wen es sich handelte, das habe ich leider vergessen, und in der Vielzahl dieser Biografien habe ich den Text nicht wiedergefunden): „1863 hatte er die Fabrikantentocher Luise X geheiratet und zwei Töchter.“ Den Satz verstehen Sie doch, nicht wahr? Ich jedoch stutzte und war etwas verblüfft. Mehrmals habe ich mir den Satz angesehen. Weil ich aber mehr durch Zufall in einer völlig anderen Quelle und in einem völlig anderen Zusammenhang eine ähnliche Satzkonstruktion gefunden habe, möchte ich mit Ihnen zusammen, liebe Leserinnen und Leser, diesen Satz etwas näher beleuchten.


Verblüfft war ich, weil ich noch nie in meinem Leben so eine Konstruktion von Satz gelesen habe. Es geht hier um ‚hatte‘. Diese Form ist die Vergangenheit von unserem Verb ‚haben‘. ‚haben‘ kennt jeder von uns, da gibt es keine Probleme in der Bedeutung: ‚etwas haben‘ heißt ‚etwas besitzen‘. Aber wie ist es nun mit ‚Ich hatte geheiratet‘, ‚Wir hatten uns eine Kreuzfahrt gegönnt, ‚Dieser Betrüger hatte uns reingelegt‘? Wo bleibt da der Besitz? ‚haben‘ kann in zwei Arten der Verwendung auftreten. Einmal als sogenanntes Vollverb, das heißt mit der vollen Bedeutung des Besitzes (‚Ich habe ein Haus‘, ‚Notare haben ein Siegel‘, ‚Habt ihr heute Zeit?‘ ‚Die Zeitung hat heute 48 Seiten‘ usw.). Und zweitens tritt ‚haben‘ als sogenanntes Hilfsverb auf. Es hilft nämlich, die Vergangenheit zu bilden, konkret das Perfekt (damals in unserer Schule wurde das die zweite Vergangenheit genannt) und das Plusquamperfekt, die dritte Vergangenheit oder Vorvergangenheit. Perfekt: ‚Er hat mich gesehen‘, ‚Der Vater hat den Stiefbruder immer schlecht behandelt‘, ‚Der Bundeskanzler hat stets Waffenlieferungen an die Ukraine abgelehnt‘. Das Plusquamperfekt, auch als dritte Vergangenheit oder Vorvergangenheit bezeichnet, wird in der Regel häufig dann angewendet, wenn ein Ereignis stattgefunden hat, sein Ende erreicht ist, und dann ein neues Ereignis hinzutritt: ‚Der Autofahrer hatte den Fußgänger übersehen, und dadurch kam es zum Unfall‘, ‚Kaum hatte ich mein Frühstück beendet, da klingelte es schon an der Tür‘, ‚Wir hatten uns entschlossen, nach Mallorca zu fliegen, aber die Pandemie machte alle Reisepläne zunichte‘.


‚haben‘ als Hilfsverb wird auch als ‚temporales Hilfsverb‘ bezeichnet, weil es eben zur Bildung von Zeitformen genutzt wird (lateinisch ‚tempus‘ = die Zeit). Temporale Hilfsverben sind auch ‚sein‘ und ‚werden‘, und auch diese Hilfsverben können Vollverben sein. Es gibt ja in unserer deutschen Sprache Hunderte von Verben, und die können entweder zusammen mit ‚sein‘ oder ‚haben‘ in ihren finiten Formen die Vergangenheit bilden. Erklären wir, was ‚finite Formen‘ sind. ‚finite Formen‘ sind die konjugierten (gebeugten) Formen eines Verbs. Die ‚infinite Form‘ ist der sogenannte Infinitiv, auf Deutsch die Nennform. Konjugieren wir ‚haben‘, wir bilden also die finiten Formen: ‚ich habe, du hast, er hat, wir haben, ihr habt, sie haben‘. Nun ‚sein‘: ‚ich bin, du bist, er ist, wir sind, ihr seid, sie sind‘. Und diese finiten Formen werden – wir wiederholen uns hier – zur Bildung der Vergangenheit gebraucht. Dabei gibt es keine logische Regel, wann ‚sein‘ oder ‚haben‘ mit welchem Verb zu verwenden ist: ‚Ich habe dich gesehen‘, ‚Ich habe auf dem Bahnsteig gestanden‘ (in Süddeutschland soll es Regionen geben, da wird gesagt ‚Ich bin auf dem Bahnsteig gestanden‘), ‚Bist du dort gewesen?‘ (Achtung! ‚gewesen‘ ist das Partizip der Vergangenheit von ‚sein‘! Und dieser Satz im Plusquamperfekt: ‚Warst du dort gewesen?‘).


Liebe Leserinnen und Leser, sind Sie noch bei der Stange? Oder haben Sie es aufgegeben, diesen Artikel noch weiter zu lesen? Vielleicht stöhnen Sie: zu viel Theorie! Dabei ist es von mir nur der Versuch, Teile der Grammatik unserer deutschen Sprache zu beschreiben. Wenn Sie das für kompliziert halten, dann versetzen Sie sich bitte mal in die Rolle eines Ausländers, der Deutsch lernen soll. Wir als Deutsche haben den Vorteil, dass wir unser ganzes Leben lang ständig mit unserer Muttersprache aufgewachsen sind, und vieles von dem, was hier so nach Theorie klingt, wird von uns ganz einfach automatisch, ohne viel nachzudenken, bewältigt. Dabei sind auch schon Kinder, die noch nicht zur Schule gehen und weder lesen noch schreiben können, in der Lage, ganze Sätze zu bilden, die auch grammatisch richtig sind. Es sind offensichtlich die sprachlichen Muster, die sie von den Erwachsenen übernehmen und umsetzen können.


Nochmal zu den sogenannten Hilfsverben. Dazu gehört außer ‚sein‘ und ‚haben‘ auch ‚werden‘. Letzteres wird als temporales Hilfsverb zur Bildung der Zukunft, des Futurs, verwendet: ‚Wir werden es denen schon zeigen!‘, ‚Wird die Ukraine in dem Krieg gegen Russland gewinnen?‘, ‚Der Junge wird in Leipzig studieren‘. Aber nun sehen Sie bitte Beispiele, in denen ‚werden‘ ein Vollverb ist: ‚Wer wird im Herbst Präsident der USA?‘, ‚Prinz Charles wurde im Alter von über 70 Jahren König.‘, ‚Durch die Erbschaft ist er plötzlich reich geworden.‘


Neben diesen Funktionen als Hilfsverb zur Bildung der Zukunftsformen und als Vollverb wird dieses Verb ‚werden‘ auch noch für den sogenannten Passiv, auf Deutsch Leideform, eingesetzt: ‚Die Waffe wird geladen.‘, Einmal im halben Jahr wird der Lack ihres Autos mit Wachs überzogen.‘, ‚Neugeborene wurden sofort nach der Geburt mit kaltem Wasser gewaschen‘. Weiter oben haben wir von den temporalen Hilfsverben gesprochen. Dann gibt es auch noch die modalen Hilfsverben: ‚sollen‘, ‚müssen‘, ‚können‘, ‚dürfen‘, ‚mögen‘, ‚wollen‘. Mit ihrer Hilfe werden Fähigkeiten, Erlaubnisse, Wünsche oder Verbote, sogar Zweifel, ausgedrückt. Sie sollen hier nur erwähnt werden; eine Besprechung dazu könnte ganze Bücher füllen.


Aber kommen wir nochmals auf unseren allerersten Satz zurück: „1863 hatte er die Fabrikantentocher Luise X geheiratet und zwei Töchter.“ Wie oben schon gesagt, hatte ich gestutzt und war anfangs verblüfft: Denn dieses Wort ‚hatte‘ tritt hier in der Funktion als Hilfsverb auf (dagegen ist ja auch nichts zu sagen), aber dann, ganz plötzlich und unvermittelt, wird es ohne Wiederholung zu einem Vollverb mit der Bedeutung der Besitzanzeige. Und eine solche Konstruktion scheint Schule zu machen, denn an anderer Stelle habe ich Ähnliches mit dem Verb ‚werden‘ gelesen. Der Satz sah so aus: ‚Er wurde Präsident des Landgerichts und kurze Zeit später zum Bundesgerichtshof in Karlsruhe berufen.‘ Im ersten Teil des Satzes ist ‚werden‘ Vollverb, im zweiten Teil müssen wir uns ‚werden‘ in der gebeugten Form (‚wird‘) hinzudenken, und hier handelt es sich dann um das Hilfsverb zur Bildung des Passivs.


Kompliziert? Verben im selben Satz gebraucht als Hilfsverb und gleichzeitig als Vollverb? Geht denn das, ist das richtiges oder falsches Deutsch? Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, solche Sätze verstehen und keinen Anstoß nehmen an ihnen, dann könnte man sie doch als sprachlich richtig einordnen. Für mich, das muss ich ehrlich gestehen, sind Satzkonstruktionen dieser Art neu und ungewohnt. Sollten sich solche Konstruktionen durchsetzen – hier ist die Sprache demokratisch –, dann werden sie in Regelwerke, z. B. den Duden, aufgenommen und können als richtig gelten. Und solche Überlegungen, wie wir sie oben zu Hilfs- und Vollverben anzustellen versucht haben, wären dann überflüssig. Sind wir hier Zeugen dafür, wie sich Veränderungen in der Sprache, und dies nicht nur im Wortschatz, abspielen? Was meinen Sie, liebe Leserinnen und Leser? 



Buch-Tipp: Die Beiträge von Dieter Mengwasser sind als Buch unter dem Titel „Ich spreche Deutsch! – Sprachbetrachtungen eines Sprachkundigen“ erhältlich. Die Bücher können im KOMPAKT Medienzentrum erworben oder online unter www.kompakt.media bestellt werden.

 

Seite 32, Kompakt Zeitung Nr. 253, 10. April 2024

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