Standpunkt Breiter Weg:
Kant und die Kritiker der Kritiker
Von Thomas Wischnewski
Das gesellschaftliche Klima im Land beunruhigt. Vielfach erscheint die Stimmung aufgeheizt. Die Kontroversen verhärtet. Dispute finden keine Kompromisse, sondern nur gegenseitige Ablehnung über die jeweilige Position. Einen Ausgangspunkt für die aktuelle Debattenlage mache ich im Jahr 2015 fest, als der erste große Flüchtlingsstrom auf Deutschland zurollte. Kritik an der unkontrollierten Aufnahme wurde ebenso mit Ressentiments begegnet, wie Vorurteile über ankommende Menschen. Inzwischen sind die Kritikerargumente von damals in der Regierungspolitik angekommen. Forderungen für Asylzentren außerhalb der EU, stärkere Grenzkontrollen und konsequente Abschiebungen gehören heute zum politischen Normalsprech. Vor neun Jahren mussten sich Menschen, die solche Sätze formulierten, Bezeichnungen als Fremdenfeinde, Rassisten oder gar Nazis gefallen lassen. Das eigentliche Problem steckt darin, dass die Kritik-Mechanik weiterläuft wie bisher. Wer heute nicht auf der Welle von Regierungsformulierungen schwimmt, wird mit Begriffsbesetzungen ins Abseits befördert. Corona-Maßnahmen wurden von manchen nicht befürwortet. Aber schnell waren das Leugner, Schwurbeler oder Querdenker.
Gerade begehen wir den 300. Geburtstag von Immanuel Kant (22. April 1724). Der Philosoph hatte von Köngisberg aus das Denken seiner Zeit umgekrempelt. Mittels des Kategorischen Imperativs sollte entschieden werden, ob eine Handlung moralisch sei, es müsse geprüft werden, ob sie einer Maxime folgte, deren Gültigkeit für alle, jederzeit und ohne Ausnahme akzeptabel wäre. Und es müsse gelten, dass alle von der Entscheidung Betroffenen nicht als bloßes Mittel zu einem anderen Zweck behandelt würden, sondern als Zweck an sich. Mir scheint, wir haben uns vom Kantschen Denken entfernt. Die gewissenhafte Prüfung, das Folgenabschätzen weicht oft genug einer politischen oder ideologischen Überzeugung, einem voreiligen Teilen in Gut und Böse.
Wenn Bürger nach Frieden rufen – egal, ob in der Ukraine oder in Gaza – dann dürfen sie weder als Russland-Freunde noch als Antisemiten abgestempelt werden. Andernfalls verwundert es nicht, dass selbige dann mit Worten wie „Kriegstreiber“ zurückschlagen. Diese Unart der Debattenkultur hat sich eingenistet. Wer dafür nur die ersten Kritiker verantwortlich machen will, verschweigt den eigenen Anteil an der Entwicklung. Egal auf welchen Lebensbereich wir blicken, gendergerechte Sprache, sogenannte Gleichstellungsaspekte, soziale Fragen oder kulturelle Einordnungen – Cancel Culture, um das Unliebsame grundlegend abzulehnen, findet auf allen Seiten statt. Es geht oft nicht um die Wahrheit, sondern eher um ein zusammengezimmertes Theoriegerüst. Im besten Fall wird mit Studienergebnissen um sich geschlagen. Der Wert solcher Untersuchungen ist oft genug ein schwammiger. Was wir dringend brauchen, sind Appelle für Meinungsaustausch, Respekt und offene Debatten. Verengt ist alles schon genug. Kant hätte heutigen Kritikern von Kritikern sicher kategorisch die Meinung gegeigt. Gelingt das nicht, wundert Euch nicht über die Entfernung vom Kantschen Imperativ und die Gefahr sich verschärfender Auseinandersetzungen.
Nr. 254 vom 23. April 2024, Seite 2
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