„Nicht hier und
nicht mit diesen Gedanken“
Von Rudi Bartlitz
Der 21-jährige Aschersleber Julian Vogel holte mit dem Junioren-Weltmeister-Gürtel einen weiteren Titel für SES. Der Magdeburger Boxstall greift in nächster Zeit nach weiteren internationalen
Titeln. Reizvolle Aufgaben für Kabayel, Deines und Eifert.
Seine erste improvisierte Pressekonferenz als neuer Weltmeister bestritt Julian Vogel auf ziemlich ungewöhnliche Weise: in seiner Umkleidekabine im Aschersleber „Ballhaus“. Auf den Fliesen hockend, die geschwollene rechte Hand tief vergraben in einer mit Eis gefüllten Box, dreimal so groß wie ein Schuhkarton. Das Gesicht noch von Schmerz gezeichnet. Ja, diese Verletzung, die er sich irgendwann in der vierten oder fünften Runde des WM-Gefechts um den Junioren-WM-Titel im Superweltgewicht gegen den Belgier Jan Helin zugezogen hatte, sie hätte dem 21-Jährigen fast den Gürtel des Weltverbandes WBO gekostet.
In der Pause nach der fünften Runde hatte Vogel seinem Trainer Dirk Dzemski plötzlich signalisiert: „Es geht nicht mehr. Ich glaube, die Rechte ist gebrochen. Ich höre auf.“ Jetzt war der Coach als Psychologe gefragt: „Versuch es zumindest noch eine Runde. Die Hand kann nicht abfallen.“ Cutman Jörg Hohmann motivierend: „Junge, es geht um die WM!“ Vogel nickte schmerzverzerrt. Überwand sich, machte weiter, drehte den Kampf noch zu seinen Gunsten. „Die rechte Hand hat so weh getan“, gestand der Mann, der in Aschersleben das Licht der Welt erblickte, im Rückblick. „Aber aufgeben, das konnte ich nicht – nicht hier und nicht mit den Gedanken an meinen Vater! Ich musste da durch.“ In diesem Moment, so schien es, gingen ihm all jene aufmunternden Worte durch den Kopf, die ihn Vater Olaf einst in der Ringecke zugeflüstert hatte.
Es sind oft Geschichten wie diese, die dem Boxen in den Augen vieler noch einen zusätzlichen Drive geben. Als Julian Vogel Siebzehn war, verlor er seinen Vater, der früh an einem Hirntumor verstorben war. Julian hing sehr an ihm. „Er war damals oft am Grab“, sagte seine Mutter jetzt im MDR. Erst das Boxen habe ihren Sohn wieder aufgebaut, neue Hoffnung verliehen. Der Vater war einst auch erster Trainer beim VfB Aschersleben, bevor es den talentierten Junior nach Magdeburg zum SES-Team zog, wo er im Oktober 2020 sein Profidebüt gab. Den WM-Gürtel, den er jetzt im „Ballhaus“ seiner Heimatstadt – das einmal so etwas wie sein Wohnzimmer werden soll – eroberte, widmet er dem Vater. „Morgen komme ich zu dir ans Grab“, sagte er noch im Ring mit stockender Stimme, „und bringe dir den Gürtel mit.“
Bei SES reiht sich Vogel nunmehr in eine klangvolle Liste von mehr als einem halben Dutzend Namen ein, die den Junioren-Weltmeistertitel nach Magdeburg holten, darunter auch die späteren Welt-Champions bei den „Großen“, Robert Stieglitz und Dominic Bösel. Vogels Auftritt vor 2.000 Zuschauern im ausverkauften „Ballhaus“, wo SES 2009 letztmals eine seiner Galas veranstaltet hatte, unterstrich ebenso, dass das Boxen auch in Zukunft nicht unbedingt nur auf mit Millionen gespickte Auftritte in den USA oder auf das neue Faustkampf-Mekka Saudi-Arabien reduziert sein muss. „Mit Julian Vogel haben wir wieder einen Sportler aus Aschersleben, der hier die Halle füllt“, freut sich SES-Promoter Ulf Steinforth. „Der Junioren-WM-Kampf ist da die beste und hochwertigste Herausforderung. Wir haben hier vor über 15 Jahren mit Robert Stieglitz und auch dem Lokalmatador Oliver Güttel bei deren ersten Titelkämpfen erlebt, wie boxbegeistert diese Stadt ist.“
Zur Wahrheit gehört allerdings ebenso, dass die absoluten SES-Stars von heute wie Schwergewichtler Agit Kabayel vermutlich kaum noch im mitteldeutschen Raum live im Ring zu erleben sein werden – weil hierzulande die Gelder großer TV-Anstalten fehlen oder eben derzeit die Saudis mit ihren Petro-Dollar-Millionen, die sie regelrecht in den Ring schütten, den Takt der Musik bestimmen. Ähnliches könnte bald ebenso für die beiden Magdeburger Halbschweren Michael Eifert oder Adam Deines zutreffen. Gerade Letzterem bietet sich nach einer Methusalem-Wartezeit von über drei Jahren, die nur mehr schlecht als recht von sogenannten Aufbaukämpfen überbrückt wurde, jetzt eine neue Chance, oben noch einmal ernsthaft angreifen zu können. Im März 2021 hatte er den Fight um zwei WM-Gürtel gegen den Kanado-Russen Artur Beterbiev in Moskau trotz guter Vorstellung durch technischen K.o. in Runde 10 verloren.
Nun greift der 33-Jährige noch einmal nach einem Gürtel. Und zwar dem des WBA-International-Champions. Aber dazu muss er eben nach Kanada. In Shawinigan trifft der SES-Mann, der von seinen 23 Fights nur zwei verlor, am 25. Mai auf den noch ungeschlagenen Venezolaner Albert Ramirez. „Das ist endlich die große Chance für Adam Deines, auf die alle so lange und so geduldig warten mussten“, freut sich Steinforth. „Mit Ramirez hat er genau den Gegner, der ihn bei einem Sieg ganz nach oben bringen kann. Adam hat so ausdauernd trainiert, auf diese Chance gelauert, sich in vielen Belangen noch verbessert und ja auch schon gegen Beterbiev bewiesen, dass er in der Weltspitze mithalten kann. Wir trauen ihm alles zu!“
Blanko-Sports-Promoter Benedikt Poelchau, der mit SES zusammenarbeitet: „Da hat Adam nun den notwendigen Fight, um wieder ganz oben anzuklopfen: mit dem in allen Weltranglisten gesetzten Ramirez werden sich ihm bei einem Sieg alle Türen zu einem WM-Kampf öffnen können. Da fast zeitgleich, eine Woche später in Riad, die Weltmeister Beterbiev und Bivol gegeneinander antreten, ist im Halb-Schwergewicht danach viel, viel Bewegung. Und, Adam kann dabei sein.“
Noch einen Schritt weiter ist der andere Halbschwergewichtler aus dem Magdeburger Stall, Michael Eifert. Er besiegte im März vergangenen Jahres im kanadischen Quebec in einem WM-Ausscheidungskampf des Verbandes IBF den Kanadier Jean Pascal (ehemaliger WBC- und WBA-Weltmeister). Durch diesen sensationellen Erfolg stieg der SES-Boxer zum Pflichtherausforderer des in Kanada lebenden Russen Weltmeister Artur Beterbiev auf. Aber er muss warten. Seit über einem Jahr ist er inzwischen ohne einen Wettkampf. Beterbiev absolviert erst – im Gespräch sind Ende Mai, Anfang Juni – das lange herbeigesehnte Super-Duell gegen seinen Landsmann, WBA-Champion Dmitry Bivol. Natürlich in Saudi-Arabien. Siegt Beterbiev, kann sich Eifert zumindest eine Chance ausrechnen, als Nächster gegen ihn anzutreten …
Unbestrittenes Aushängeschild des ersten ostdeutschen Profi-Boxstalls ist natürlich Agit Kabayel. Der es jetzt in seinen Händen hat, um einen der begehrtesten Gürtel anzutreten, die der internationale Faustkampf zu vergeben hat, den des Weltverbandes WBC im Schwergewicht. Derzeit trennt den Deutschen mit kurdischen Wurzeln nur noch ein einziger Schritt davon: nämlich ein sogenannter „Eliminator“, ein Ausscheidungskampf für ein WM-Duell. Inzwischen sind dafür auch Gegner, Termin und Austragungsort vom Weltverband WBC festgelegt: Der 31-Jährige aus Bochum trifft am 18. Mai auf den in den USA lebenden Kubaner Frank Sánchez. Beim Ort muss man nicht lange rätseln: natürlich die Kingdom Arena in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad.
Und wie es der Zufall so will, findet genau dort am selben Abend in derselben Halle der weltweit mit Spannung erwartete Mega-Kampf zwischen Tyson Fury und Oleksandr Usyk statt. Dort geht es um alle vier Titel der großen Verbände WBO, IBF, WBC und WBA. Da Kabayel und Sánchez in der WBC-Rangliste auf den Positionen vier und zwei gelistet sind, wird der Sieger ihres Duells zum Pflicht-herausforderer um die WBC-Krone, darf dann also gegen Fury oder Usyk in den Ring steigen. „Für Agit ist das die nächste Riesenchance, sich in der Boxwelt ganz oben zu beweisen“, freut sich Steinforth. Es könnte jedoch sein, dass sein Schützling darauf, wie seine Teamgefährten, eine Weile warten muss. Denn beide Super-Stars sollen schon, unabhängig vom Ausgang, einen Rückkampf vereinbart haben. Es handelt sich eben um boxende Geschäftsleute, durch und durch.
Nr. 254 vom 23. April 2024, Seite 46
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