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Römers Reich
Verbindendes trennt

Axel Römer

 

Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört – dieser Willi Brand zugeschriebene Ausspruch anlässlich des Berliner Mauerfalls, stammt ja eigentlich aus einem älteren Interview über das Zusammenwachsen Europas. Ums Zusammenwachsen soll es in diesem kleinen Text gehen. Über 35 Jahre nach dem Fall der Mauer werden fleißig Unterschiede über Ossis und Wessis bemüht. So als würde da immer noch etwas Trennendes zwischen den Deutschen liegen. Der Leipziger Germanist Prof. Dirk Oschmann schrieb die Erfindung des Ostens dem Westen zu. Oschmann-Kritiker sprechen gar von einer Selbsterfindung des Ostens. Ich habe der Weisheit letzten Schluss zu dem Thema auch nicht. Beruhigend ist, dass auch die Soziologie keine endgültige Antwort findet, dafür aber neue Befunde zutage fördert.


Steffen Mau, Thomas Lux und Julian Heide von der Humboldt Universität Berlin stellen aus neuen Daten aus dem Jahr 2022 fest, dass die deutsch-deutschen Trennlinien unter jungen Westdeutschen rückläufig sind, bei den jungen Ostdeutschen allerdings ein Fortwirken von Unterschieds- und Konfliktwahrnehmungen deutlich wird. Die Unterschiede seien bei den jungen Ossis sogar noch stärker ausgeprägt als bei deren Eltern. Das Fazit der Wissenschaftler aus der Untersuchung lautet: Jüngere Ostdeutsche kompensierten möglicherweise ihre Enttäuschung über die Anpassungsleistungen ihrer Eltern an eine Kolonisierung durch den Westen mit einem trotzigen Bekenntnis zur eigenen „Andersartigkeit“. Die Autoren der Studie sehen außerdem die Gefahr, dass es nun auch aus westdeutscher Sicht zu einer Betonung der Differenz kommen könnte. Am Ende wäre sogar tiefer greifender Kulturkampf um Fragen der nationalen Identität der deutschen Gesellschaft möglich. Oder anders gesagt, ein gewünschtes Zusammenwachsen birgt stets die Gefahr neuer Trennungen in sich.


Solche Erscheinungen gibt es auch auf anderen Gebieten. Das Beschwören der Einheit europäischer Nationen hatte beispielsweise den Brexit zur Folge. Die Betonung nationaler Unterschiede zeigt sich inzwischen deutlicher, seit die Institutionen der EU eine Vereinheitlichung in immer neuen Gesetzen zementieren wollen. Ähnliche Differenzen sind unter dem Begriff der Integration von Migranten zu erkennen. Bis hin zu islamistisch, extremen Kalifatsforderungen reicht die Betonung eines religiösen Kulturkampfes am Rand der Gesellschaft. Wer also in einem Bereich Einheit oder eben ein Zusammenwachsen wünscht, muss die Gegensätze kennen. Lässt man solche außer Acht, verstärken sich möglicherweise gegensätzliche Pole. Aus heutiger Sicht könnte also das Willi-Brand-Zitat umgeschrieben werden in: Wenn zusammenwachsen soll, was vermeintlich zusammengehört, entstehen neue Differenzen. Oder kurz gesagt: Verbindendes ist Keim für Trennendes. Selbst ein alles verbindender Gott monotheistischer Religionen, wurde wie die Geschichte zeigt, stets zu einem Spaltpilz, an dem die Menschheit nach wie vor herumlaboriert.

 

Nr. 255 vom 14. Mai, Seite 3

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