Stadtmensch:
Über Einsamkeit im Internet

Von Lars Johansen

 

In letzter Zeit bemerke ich, dass ich älter werde. Nun ist das ja kein neuer Vorgang, aber ich bemerke es verstärkt. Weil ich immer weniger verstehe, was gerade los ist. Das heißt, ich verstehe es zwar irgendwie, aber es ist schon sehr fremd. Ich bin zwar kein „Digital Native“, aber schon sehr lange mit dem Computer zugange und natürlich ist das Internet kein Neuland für mich. Dass ich nicht alles verstehe und ein wenig mit der Künstlichen Intelligenz fremdele, das ist normal und stört mich nicht weiter.


Nun bemerke ich, dass eine völlig neue Generation unterwegs ist, die komplett losgelöst von der realen Welt eigentlich nur noch im Internet zu leben scheint. Und ich beginne, ein wenig Mitleid zu fühlen, denn sie sind so jung und haben so wenig erlebt und wollen trotzdem Influencer sein. Sie sitzen also in ihren Studios und schwätzen ohne Unterlass in ihre Überwachungskameras hinein. Sie haben Zehntausende oder gar Hunderttausende Follower, denen sie ihren Sermon in Form von Podcasts nahezu täglich ins Haus schicken. Es ist ja nicht so, dass ich nicht selber gerne ein paar dieser Podcasts höre und mal hier oder da hineinschalte. Bei vielen Menschen dort lerne ich etwas und höre ihnen gerne zu, weil es mich bereichert. Es bereichert mich vor allem dann, wenn sie sich an Themen abarbeiten, die meinen Alltag betreffen. Politisch interessant oder von praktischer Nützlichkeit sind einige davon. Darum geht es mir auch nicht.

 
Es betrifft vielmehr diese medialen Zombies, die nur um sich selber kreiseln oder die interessanten Beiträge von anderen auf ihren Kanälen kenntnisarm kommentieren, ohne außer ihrer eigenen Meinung etwas Kluges zu ergänzen. Als hätten sie selber nichts mehr zu sagen, aber wären in der Lage, andere für ihre wortreiche Sprachlosigkeit zu kritisieren. Ansonsten sind es Gespräche wie man sie aus dem Leben über die Nachbarschaft oder die Verwandtschaft kennt, wo der neueste Klatsch und Tratsch im unmittelbaren Gespräch breitgetreten wird. Das ist meist eher lästig als wirklich interessant, aber wenigstens in der eigenen Lebenswirklichkeit verortet. Doch hier sind es Personen, die außer sich nichts anzubieten haben. Sie sind weder Sänger, noch Schauspieler, Models oder Sportler oder mit Prominenten verbandelt. Kurz, sie sind normale Durchschnittsmenschen und tatsächlich erschreckend uninteressant. Dass sie so hohe Followerzahlen generieren, ist Phänomenen geschuldet, die sich mir aufgrund meines Alters komplett entziehen. Das Faszinierende an ihnen ist aber, dass sie bereit sind, sich komplett herzugeben. Sie machen sich quasi nackt und teilen ihr ganzes Leben mit ihrer Community. Das ist einerseits mutig, auf der anderen Seite fatal. Denn so jung wie sie sind, können sie sich den Konsequenzen ihres Handelns nur bedingt bewusst sein. Sie verwandeln sich von realen Personen in Projektionsflächen für ihre Fans. Da sie nur sich selbst und keine Rolle anzubieten haben, können sie sich nicht mehr zurückziehen, der öffentliche Raum ist zugleich ihr privater und ein virtueller. Sie sind überreal und wenn das, was sie anbieten, nicht mehr auf Gegenliebe stößt, dann sind sie damit persönlich gemeint. Denn ihr Handeln und ihr Sein sind untrennbar miteinander verbunden. Eine Zurückweisung ist existenziell. Das macht mir Sorgen. Wie wollen sie damit fertigwerden? Wir alle kennen persönliche Kränkungen oder Zurückweisungen. Diese gehören zum Leben. Schon damit können nicht alle Menschen umgehen. Wenn es aber die eigene Einkunftsquelle gleich mitbetrifft, denn weniger Follower bringen weniger Einnahmen, dann wird aus der privaten Tragödie eine berufliche. Und obendrein wird diese öffentlich ausgetragen. Das ist für sehr junge Menschen eine Erfahrung, der sie nicht gewachsen sein können, weil sie darauf niemand vorbereitet hat.


Das Phänomen ist neu, dass man nicht auf Erfahrungen anderer aufbauen kann. So persönlich es auf der einen Seite ist, so weit entfernt von jeder Realität ist es auf der anderen. Schließlich sind Menschen hier nur virtuell verortet und entziehen sich jeder anderen als ihrer medialen Realität. Alleine über ihre Fans oder Abonnenten oder Konkurrenten halten sie Kontakt zu einer Außenwelt, die aber keine Außenwelt, sondern nur eine introspektive Scheinwelt ist. Wie in einem Spiegelkabinett fällt der Blick immer wieder auf das eigene Abbild. Und du schaust von draußen darauf, wie einer sich spiegelt. Diese Gefangenschaft wirkt auf mich wie ein freiwilliges Guantanamo.


Seit 2008 gibt es den so genannten „Truman-Show-Wahn“ nach dem 1998 entstandenen Spielfilm. Da glauben Menschen, Teil einer Reality-Show zu sein. Nur ist es bei den Youtubern kein Wahn, und man wurde für eine solche Show nicht gecastet. Es ist ein selbst gewähltes Schicksal. Das erinnert an das Dschungelcamp oder Big Brother, findet aber komplett alleine statt. Zum Interagieren gibt es keine realen Menschen mehr, es könnten auch Bots oder KI sein. Ich bin eher zufällig über „Anni the Duck“ gestolpert, über die es im Februar eine Fernsehdokumentation vom Saarländischen Rundfunk gab. Sie ist Cosplayerin und Youtuberin und beschäftigt sogar ein paar Angestellte. Alle, die in der Doku nett über sie reden, haben jetzt auf ihren eigenen Streamingkanälen sehr persönlich unter Nennung intimster Details mit ihr abgerechnet, was dazu geführt hat, dass Follower und Sponsoren abgesprungen sind und ihr Geschäftsmodell der Selbstvermarktung nicht mehr gut funktioniert. Das wird mit viel Häme aus der Szene begleitet, die vielleicht auch neidisch auf ihren Erfolg ist. Vor allem aber zeigt sich, dass es in diesem Geschäft keine Sicherheiten gibt, kein Netz, das auffängt, vor allem aber einen Hass, der im Internet immer virulenter wird. Und so fallen die Youtuber letztlich zurück auf sich, doch ihre Beiträge bleiben in einer ewigen Zeitschleife im Netz. Und der können sie nimmermehr entkommen.


Nr. 256 vom 28. Mai 2024, Seite 7

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