Wendezeit für Marko, oder –
was wirklich zählt!
Von Heinz-Georg Barth
Der pädagogische Rat der Georg-Singer-Oberschule Magdeburg trat zur „Absegnung“ der Jahresnoten und Versetzungen zusammen. Solche Lehrerpflichtveranstaltungen liefen meist reibungslos ab. Doch diesmal gab es ein Problem in der Klasse 8 c – Marko!
Seit dem Frühsommer 1989 kam Marko kaum noch zur Schule. Doch er wurde täglich in Kindergarten und Schulhort gesehen, wenn er seine Schwestern frühmorgens dorthin brachte, oder sie nachmittags abholte. Auch beim Verkauf von Obst und Gemüse war er anzutreffen. Nur zum Unterricht kam er immer seltener.
Ich versuchte mit Marko ins Gespräch zu kommen. Er wirkte bedrückt, antwortete kaum auf meine Fragen. „Mensch Marko, wenn du nicht zur Schule kommst, schaffst du das Klassenziel nicht. Ein anständiger Kerl wie du, willst du das wirklich? Ich möchte dich morgen in der Schule sehen!“ Flehend und zugleich ernst redete ich auf ihn ein. Hatten meine Worte ihn erreicht?
Ja! Am nächsten Morgen kam Marko zum Unterricht.
Die Fachlehrer begehrten an diesem Tag besonders ihren „Gastschüler“ Marko zur Leistungskontrolle. Das Ergebnis war absehbar! In den meisten Fächern sackte Marko ab, seine Motivation ebenso.
Markos Eltern ignorierten Gesprächstermine. Einmal kam seine Oma in die Schule und versprach, sich zu kümmern, aber …
Im Elternaktiv, am Vorabend des pädagogischen Rates, stand „Marko“ weit oben auf der Tagesordnung. Was ich dabei erfuhr, verschlug mir die Sprache. Markos Eltern hatten sich abgesetzt – die DDR illegal verlassen. Er lebte mit seiner kranken 78-jährigen Oma und beiden Schwestern allein im Haus. Marko kümmerte sich um alles. Früh brachte er die fünf- und siebenjährigen Mädchen in Kindergarten und Schulhort. Er verband die Beine der Oma. Erntete Obst und Gemüse im Garten, um es zu verkaufen. Sie brauchten dringend Geld, denn Markos Oma hatte nur ihre kleine Rente.
Im pädagogischen Rat sprach ich die Problematik an, beantragte aufgrund der Ausnahmesituation eine Versetzung „Auf Beschluss des pädagogischen Rates“, was damals normal war. Die Sitzenbleiberquote der Schule durfte sich nicht der zwei-Prozent-Marke nähern.
Von der Parteisekretärin wurde mein Antrag mit scharfen Worten zurückgewiesen: „Weißt du überhaupt, für wen du hier sprichst?!“
Die Direktorin hakte nach: „Hat der sich als Berufsunteroffiziersbewerber oder Berufsoffiziersbewerber gemeldet?“ Diese Schüler, im Klassenbuch gekennzeichnet mit BUB und BOB, durften keine „Vier“ oder „Drei“ auf dem Zeugnis erhalten. Im Falle Marko zog die Sonderregelung: „Versetzt auf Beschluss des pädagogischen Rates“ nicht. Damit war klar, Marko wird sitzenbleiben!
Schon seit der Einschulung waren die Schüler zusammen, haben vieles gemeinsam erlebt. Marko war ein fester Teil von ihnen. Das sollte sich jetzt ändern!? Wie vieles in der DDR-Wendezeit.
Seit diesem „Beschluss“ plagte mich mein Gewissen. Diese „besonderen Umstände“ berechtigen keine Versetzung, was mir noch einmal eindringlich durch die Schulleitung in einem „speziellen Gespräch“ mitgeteilt wurde.
Die Nacht vor der Zeugnisausgabe verbrachte ich schlaflos, wälzte mich hin und her. Dann, wie vom Blitz getroffen, stand ich um zwei Uhr auf und schrieb das Zeugnis von Marko neu.
Mir ist heute noch klar, dieser 14-Jährige hat in einer außergewöhnlichen Situation Reife und oft beschworene Tugenden gezeigt, die ihresgleichen suchen.
Minuten vor der offiziellen Zeugnisausgabe legte ich der Direktorin das Zeugnis zur Zweitunterschrift mit den Worten: „Mir ist ein Schreibfehler unterlaufen, den ich gerade noch gesehen und korrigiert habe“ vor.
Zur Zeugnisausgabe waren alle 27 Schülerinnen und Schüler der Klasse versammelt. Dann nahm ich das letzte Zeugnis vom Lehrertisch mit den Worten: „Nun zu unserem Problemkind Marko!“
Marko kam langsam mit gesenktem Kopf zu mir. „Einschneidendes, was wir vielleicht später erst richtig verstehen werden, ist in letzter Zeit geschehen und vollzieht sich immer noch. Auch wenn Marko in den vergangenen Monaten oft fehlte, hat er uns allen bewiesen, dass er Gelerntes bestens anzuwenden weiß. Das zu tun, worauf es im Leben wirklich ankommt. Nur das zählt! Deshalb Marko, bin ich sicher, du wirst dein Leben meistern, trotz deiner Fehlzeiten.“
Marko nahm schweigend sein Zeugnis und lief unter den mitleidigen Blicken seiner Klassenkameraden durch die Stille des Raumes. In Höhe der letzten Bank riss er sein Zeugnisheft mit einem explosiven Aufschrei, der ewig in meiner Erinnerung haften bleiben wird, in die Höhe: „VERSETZT!!!“
Mit dem Wachsen der Schülertraube um Marko, der auf seinen Stuhl sank und seinen Kopf auf die Hände legte, verließ ich den Klassenraum. Alle Last war von mir abgefallen.
Übrigens, weder die Direktorin noch ein Lehrer, haben jemals wieder ein Wort über „Markos Versetzung“ verloren. Die 10. Klasse beendete Marko mit „Gut“.
Nur, die „Kollegin“, die sich im Dezember 1989 neu zur Parteisekretärin wählen ließ – moderierte bis Februar 2024 beim MDR – erklärte mir tatsächlich noch im März 1990: „Wenn der Spuk hier vorbei ist, und das dauert nicht mehr lange – höchstens noch zwei, drei Monate – dann werden wir dich zur Verantwortung ziehen!“
Und genau, hier begann eine neue Geschichte.
Anm. d. Redaktion: Wenn Sie eine Geschichte aus der Übergangszeit 1989 bis Anfang der 1990er Jahre erlebt haben, schreiben Sie uns bitte bzw. senden Sie einen Text ein. Wir möchten gern Zeitzeugengeschichten aufgreifen, nacherlebbar machen und für die Nachwelt erhalten.
Nr. 256 vom 28. Mai 2024, Seite 12
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