Die Köpfe werden heißer
Von Thomas Wischnewskiv
Alle gesellschaftlichen Debatten scheinen heute vorrangig in Schwarz-Weiß-Diskussionen geführt zu werden. Wer sich gegen die Erzählung des einen richtet, wird als Feind oder gar Gegner der Demokratie ausgemacht. In allen Bereichen des Lebens brauchen wir einen Perspektivwechsel, sonst werden die Perspektiven weiter ins Negative umschlagen.
Es ist gewiß der Wahrheit nichts so gefährlich, als wenn einseitige Meinungen einseitige Widerleger finden. Friedrich von Schiller (1759 – 1805)
Die Welt ist komplexer geworden. So heißt es heute häufig. Vielleicht ist diese Komplexität jedoch oft nur ein Ausdruck über die Fülle an Informationen. Auf jeden Fall drückt sich in der Komplexität aus, dass manche Überzeugung und einstige Standpunkte nicht mehr auf die Konflikte in der Welt passen. Der russische Präsident gibt sein Feindbild über den Westen zum Besten. Hierzulande wird andererseits genauso einseitig der russische Bösewicht beschworen. Ähnlich fatal zeigen sich die Sichtweisen im Konflikt zwischen den Israelis und den Palästinensern. Noch erschreckender sind die Auseinandersetzungen, die in den sogenannten Social-Media-Kanälen ausgetragen werden. Eine Differenzierung oder eine komplexe Debatte, wie sie von Nöten wären, wird von der Masse plumper Sätze erstickt.
Die Welt der virtuellen Debattenräume gleicht einer Massenhysterie an Schwarmdummheit. Politik und Medien – vielfach in der Argumentation kaum einen Deut besser, als das Krakelen im Internet – beschwört den Schutz der Demokratie. Die Ursachen einer sich verschärfenden Diskussion kommen dabei nicht zur Sprache. Der Politikwissenschaftler Philip Manow, Professor für Internationale Politische Ökonomie an der Hochschule Siegen legte kürzlich eine Publikation unter dem Namen „Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde“ vor. Darin vertritt der Autor die These, dass die sogenannte „liberale Demokratie“, die offenbar in einer Krise steckt, weil ihr in zahlreichen Ländern eine Fundamentalopposition entgegentritt, diese Gegenbewegung selbst hervorgebracht hat. In den vergangenen Jahrzehnten brachte die Politik ein Ausmaß an verrechtlicher und institutionalisierter Verkrustung hervor, aus der sie selbst keinen Ausweg findet. Im Prinzip hockt über allem eine Macht der Judikative aus Verfassungsgerichten, Verwaltungsrechtsentscheidungen und einem Regeldickicht, unter der Politiker selbst eine Ohnmacht erleben. Allerdings beteuern sie selbst immer wieder, in den Parlamenten der Gesetzgebung das Zepter führen zu können. „Mithilfe des Rechts und der Aufsicht über das Recht durch Verfassungsgerichte versuchen diese Transformationsgesellschaften ihre Übergangsprozesse zu entpolitisieren und zu verregeln, ihnen somit Irreversibilität und Berechenbarkeit zu verleihen“, schreibt Manow in seinem Essay.
Über der selbst eingemauerten Handlungsfähigkeit legen sich dann noch erdrückende Verträge und rechtliche Bestimmungen des Brüsseler Bürokratismus. „Die Aufwertung der Gerichte“ gehe zwangsläufig „mit einer Abwertung der Parlamente einher“, mein Ökonom und Politologe Manow.
Neben der Verrechtlichung kann als ein weiterer negativer Einfluss die Kapitalmobilität angesehen werden. Die Globalisierung sei alternativlos – so lauteten die Beschwörungen in den 1990er Jahren. Inzwischen sind protektionistische Erscheinungen an der Tagesordnung. Zwischen der westlichen Welt und insbesondere Asien tobt längst eine wirtschaftliche Auseinandersetzung mit gegenseitigen Strafzöllen. Obwohl weltweiter Handel und globale Warenströme, an denen Europa und natürlich Deutschland existenziell hängen, als Grundlage unseres Wirtschaftens angesehen werden, knirschen die Ökonomie-Getriebe längst. Auch hierbei wird deutlich, dass die Überzeugungen und Standpunkte, die einst als einzig wahrer Weg verkündet wurden, mit den sich dynamisch verändernden Kräften in der Welt nicht mehr Schritt halten. Ein Eingeständnis über diese Entwicklung sucht man in der Politik vergebens, erwartet aber von der Bevölkerung, dass sie der Weltkomplexität begegnen solle, ohne selbst eine Vorstellung davon zu haben, wie einseitig die eigene Argumentation ist. Der als Feind definierte „Populismus“ ist für Manow „nicht der Gegner, sondern das Gespenst der liberalen Demokratie“ – er ist der Wiedergänger der von ihr erstickten Politik. Oder anders mit Karl Marx und Friedrich Engels im „Manifest der Kommunistischen Partei“ gesagt: „Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“ Je verkrusteter sich also die politischen Bedingungen darstellen, um so mehr Gegengewicht entsteht daraus.
Die Migration nach Europa bzw. Deutschland ist eben nicht nur als Fluchtbewegung vor Krieg oder aus existenziellen Ursachen zu begreifen, sondern als ein unüberschaubares Sammelsurium an Gründen, die Menschen ein bequemeres oder sicheres Leben versprechen. Und unter der Menge des Zustroms gibt es Scharlatane, Demokratiefeinde, religiöse Fanatiker und Kriminelle, die den kulturellen Konsens hierzulande gefährden und damit die AfD bei der Europawahl 2024 inzwischen zur zweitstärksten Kraft haben werden lassen.
In den zurückliegenden fast zehn Jahren haben es Politiker aller etablierten Parteien selten geschafft, die Vielschichtigkeit der hierher strömenden Menschen angemessen zu benennen. Über alles wurden Worte wie Nächstenliebe und Hilfe gestülpt. Kritische Stimmen und prognostizierte reale Gefahren wurden moralisch erstickt. Und genau solche einseitigen Argumentationslinien sind in allen Bereichen der Gesellschaft zu finden. Zu Klimaschutz und Energiewende dürfen oft keine Einwände geäußert werden. Obwohl Deutschland weltweit mit Kindergeld, Erziehungsurlaub, staatlich geförderten Kitas und weiteren Hilfen eines der umfangreichsten Programme zur Kinder- und Familienförderung unterhält, sinkt die sogenannte Fertilitätsrate und liegt bei knapp 1,5 Kinder pro Frau. Dennoch wird die Geschichte der zu geringen staatlichen Maßnahmen weitererzählt. Ähnlich einseitig wird über die Arbeitssphäre gesprochen. Hier scheinen ausschließlich Stress, Mobbing und Druck zu herrschen, obwohl über die Hälfte der Deutschen in öffentlichen Bereichen beschäftigt ist, in denen es gar keine Kapitalmechanismen geben kann.
In der Gegenwart müssen die Erzählungen zum Wirtschaften, über die Politik, zu sozialen Systemen grundsätzlich auf den Prüfstand. An vielen Ecken und Enden ist die „liberale Demokratie“ – der es übrigens oft genug an Selbstbestimmung mangelt – ein sich selbst verengendes System. Anstatt überall nur Feinde sehen zu wollen, muss ein Perspektivwandel hin zur Selbstbeobachtung angestrengt werden. Wer sich nicht in diese Richtung bewegen will, wird dann schon bewegt werden. Auf feste Standpunkte trifft man häufig an Kreuzungen ohne Wegweiser. Wir stehen, auch politisch zu oft auf festen Standpunkten, die mit der Entwicklung nicht schritthalten. Wird hier keine geistige Beweglichkeit sichtbar, werden die Feinde mehr, allerdings oft nur aus der Perspektive derer, die sich auf dem rechten Weg befinden wollen, den eigenen Stillstand im fahrenden Zug jedoch nicht sehen können.
Nr. 257 vom 11. Juni 2024, Seite 9
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