Verspätete kleine Nachlese
Dieter Mengwasser – Dipl.-Dolmetscher u. -Übersetzer

Galina Petrowna Schnejder freut sich. Sie sitzt vor dem Fernseher. Inzwischen lebt sie schon vier Jahre in Deutschland, nachdem sie aus Kasachstan als Spätaussiedlerin gekommen ist. Was da auf dem Bildschirm vor sich geht, das gefällt ihr: elegant gekleidete Damen und Herren, schöne klassische Musik, ansprechende Vorführungen einer Ballettgruppe und anderes, was sie heiter stimmt. Ab und zu kommen Einblendungen mit einem geschriebenen Text, aber immer wieder derselbe Text. Sie fragt ihren Mann, ob er wisse, wo diese Stadt Semp oder Sempe liege. Denn diese Vorführungen werden aus einem schönen Theatergebäude übertragen, und das befindet sich augenscheinlich in einem Ort mit diesem Namen. Sie ist verwirrt, als ihr Mann von Dresden spricht, und da gäbe es da ja auch eine schöne alte Oper.
Der Dame kann geholfen werden. Am 23. Februar 2024 hat das MDR-Fernsehen den Opernball aus der Semperoper in Dresden übertragen. Die Bezeichnung dieses Opernhauses als Semperoper ist zurückzuführen auf Gottfried Semper. Er wurde 1803 in Hamburg geboren, studierte Architektur und Kunst und hatte sich bereits als junger Mann einen guten Ruf auf seinem Fachgebiet erworben. Nach Aufenthalten in verschiedenen Städten wurde er 1834 an die Kunstakademie Dresden berufen und erhielt später den Auftrag, in der Stadt ein Hoftheater zu bauen. Er widmete sich voll diesen Aufgaben, bis er von dem Haftbefehl erfuhr, der gegen ihn wegen seiner Teilnahme an den revolutionären Kämpfen 1849 ausgestellt war. Semper hatte mit der Waffe in der Hand an einer von ihm selbst entworfenen Barrikade gekämpft und musste, zusammen mit seinem Freund, dem Komponisten Richard Wagner, aus Dresden fliehen. Paris, London, Zürich und Wien sind weitere Stationen seines Lebens, und Zeugnisse seiner Tätigkeit als Künstler des Bauwesens sind an vielen Stätten zu finden. 1879 ist er in Rom gestorben. Sein Name bleibt mit dem Dresdner Opernhaus verbunden, denn entsprechend seinen Entwürfen wurde das Gebäude gestaltet.
Was hat das nun alles mit dieser Rubrik „Ich spreche Deutsch“ zu tun? Auch ein junger Mensch, und sei er auch Deutscher, wird erstmal nicht genau wissen, worum es sich bei der ‚Semperoper‘ handelt, jedenfalls, wenn er selbst nicht aus Dresden stammt. Er könnte der Meinung sein, dieses Wort stamme von einer Ortsbezeichnung. So wie die ‚Magdeburger Handballmannschaft‘, der ‚Nordhäuser Korn‘, die ‚Gernroder Stiftskirche‘, der ‚Hamburger Michel‘, ‚Kölner Platz‘ oder auch der ‚Berliner Fernsehturm‘. In unserem Fall ist der Namensgeber des Operngebäudes ein Mensch. Alle, die an der Organisation des Opernballs in Dresden beteiligt sind, wissen das natürlich, selbstverständlich auch die Einwohner Dresdens. Und in jedem Reiseführer über die Stadt Dresden finden Sie den Eintrag „Semperoper“. Zusammensetzungen dieser Art – Eigenname plus Substantiv – sind üblich: Dieselmotor, Bismarckhering, Röntgenstrahlen, Morsealphabet, Goethestraße, Thomanerchor, Herbertstraße, Agricolastraße usw. Aber wie soll der Opernball sprachlich eingefügt werden, also wie ‚Semperoper‘ grammatisch von der Wortbildung her möglichst korrekt mit dem ‚Opernball‘ zusammengefügt werden? Das MDR-Fernsehen hat dies in seinen häufigen Texteinblendungen während des Abends so gelöst: „Semper Opernball“. Wir wollen hier nicht krampfhaft oder künstlich nach irgendwelchen Problemen suchen, aber es sei doch die Frage erlaubt, ob die Lösung des MDR wirklich glücklich ist? Und versuchen Sie bitte, dieses Konstrukt ‚der Semper Opernball‘ auszusprechen. Die Betonung liegt auf ‚oper‘. Sprechen Sie jedoch von der ‚Semperoper‘, ist die erste Silbe ‚semp‘ betont. Warum also nicht ‚Semperoperball‘? Zusammen in einem Wort geschrieben, mit Betonung auf dem Namen des Architekten und mit Wegfallen des Buchstabens ‚n‘. Wird dieses ‚n‘ weggelassen, könnte von Kritikern eingewendet werden, dass es ja ‚Opernführer‘, ‚Opernbühne‘, ‚Opernglas‘ gibt. Die Verdiopern sind berühmt, aber bei einer Verdioper geht es ja auch nicht um ein Opernhaus, sondern um ein von dem berühmten italienischen Komponisten Verdi verfasstes Musikstück.
Gehen wir weg von der Diskussion, kehren wir nochmals zu dem Abend des Opernballs zurück. Durch die Moderatorin Stephanie Stumph wurde angekündigt, dass ab jetzt eine neue Auszeichnung anstelle des bisherigen St.-Georg-Ordens an verdienstvolle Persönlichkeiten verliehen wird. Die Vergabe dieses Ehrenpreises war in die Kritik geraten, da ihn auch Personen erhielten, für die die Menschenrechte offensichtlich wenig gelten: Putin, der ägyptische Präsident Assisi und der Kronprinz von Saudi-Arabien. In ihrer Ankündigung murmelte oder knurrte die Moderatorin etwas vor sich hin, von dem ich nur ‘Award’ verstand. Ein solches Wort hatte ich schon im Zusammenhang mit Auszeichnungen in Amerika und England gehört; dass ich das von der Moderatorin genannte vorausgehende Wort nicht verstanden hatte, führte ich auf meine mangelhaften Englisch-Kenntnisse zurück. Den ganzen Abend habe ich dann, vor dem Fernseher sitzend, aufmerksam darauf geachtet, ob diese neue Auszeichnung wieder erwähnt wird. Ein neuer Preis, so etwas müsste doch laut und deutlich propagiert werden. Es schien mir, dass er noch zweimal genannt wurde, aber auch da war die Bezeichnung – jedenfalls für mich – unverständlich. Ein bisschen hatte ich auch den Eindruck, als würden es die Redner in ihren Lobesreden zu Ehren der neuen Preisträger vermeiden, diese Wörter auszusprechen. Dabei ist sie wunderschön, diese neue Auszeichnung, hergestellt aus feinem Meißner Porzellan. Ihren Namen konnte ich dann an den nächsten Tagen geschrieben sehen: ‚Choros-Award‘. ‚Choros‘, ein aus dem Griechischen stammendes Wort mit der Bedeutung ‚Tanzkreis‘, ‚Singekreis‘. Wenn Sie da an unser deutsches Wort ‚Chor’ denken, liegen Sie nicht falsch. Durch den dunklen Vokal ‚o‘, in dem Wort ‚choros‘ zweimal auftretend, war sicherlich auch bei anderen Zuschauern nicht sofort klar, wie nun tatsächlich die Benennung ist. Es hätte sich angeboten, im Fernsehen diesen Namen durch eine schriftliche Einblendung deutlich zu machen. Und ‚Award‘ liegt voll auf der Linie, wenn wir, sprachlich gesehen als Kolonie des Englischen, natürlich auch die dementsprechenden Ausdrücke verwenden. Wie rückschrittlich dagegen ist Magdeburg! Da gibt es ein Komitee, das über die Verleihung des Kaiser-Otto-Preises entscheidet. Leute, geht ‚ran‘, kreiert auch einen Award. Gemäß Wörterbuch ist ‚emperor’ der Kaiser. Also, Emperor Otto Award – das wäre doch was!
Zum Opernball gehört auch das Tanzen der Debütanten. Dieses Wort wollen wir uns etwas genauer betrachten. ‚le but‘, französisch, ist ‚das Ziel‘, ‚das Ende‘, beim Fußballspiel ‚das Tor‘. Die Vorsilbe ‚dé-‘ treffen wir auch bei deutschen, aus Fremdsprachen stammenden Wörtern: ‚eskalieren‘ – ‚deeskalieren‘, ‚aktivieren‘ – ‚deaktivieren‘, ‚motivieren‘ – ‚demotivieren‘. Gemeint ist immer von der Bedeutung her das Gegenteil des Ursprungswortes. ‚le début‘ ist also das Gegenteil von ‚Ziel‘, ‚Ende‘, nämlich ‚der Anfang‘. Das zugehörige Verb ist ‚débuter‘ = beginnen, anfangen. Das Partizip (Mittelwort) der Zeitform Präsens ist ‚débutant‘. Im einsprachigen Wörterbuch ‚Le Petit Robert‘ ist die weibliche Form ‚débutante‘ definiert als ‚Jeune fille qui sort pour la première fois dans la haute société.‘ Die Debütanten sind also die jungen Menschen, die zum ersten Mal in der gehobenen Gesellschaft auftreten.
Ach ja, immer diese Zusammensetzungen von Wörtern! Draußen, im Freien vor dem schönen Bau der Semperoper, findet ja während des Opernballs auch etwas statt, für die Besucher sogar kostenlos! In einigen Medien wird dies ‘OpenAirball’ genannt. ‚Airballs‘ soll es beim Basketspiel geben, wenn nämlich der Ball den Korb nicht trifft. ‚Open-Air-Ball‘ zu schreiben, das geht nicht, da gibt es ja Bindestriche, und Bindestriche dürfen heute nicht mehr sein! Und ‚Opernball unter freiem Himmel‘, das geht doch überhaupt gar nicht, das klingt ja einfach viel zu deutsch, das ist doch ein absolutes No-Go!
Buch-Tipp: Die Beiträge von Dieter Mengwasser sind als Buch unter dem Titel „Ich spreche Deutsch! – Sprachbetrachtungen eines Sprachkundigen“ erhältlich. Die Bücher können im KOMPAKT Medienzentrum erworben oder online unter www.kompakt.media bestellt werden.
Nr. 257 vom 11. Juni 2024, Seite 15
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