Ja, wie schön laufen sie denn?
Körperkultur und Ästhetik verbinden enge Bande. Über die Faszination perfekter Körper und
andere Attraktivitäten des modernen Sports.
Von Rudi Bartlitz
Wenn in gut einem Monat in Paris das olympische Feuer entzündet ist, beginnt wieder ein Kräftemessen der besten Athleten der Welt. Aber das ist längst nicht nur – und längst nicht mehr – ein verbissener Kampf um Medaillen. In vielen Sportarten knistert es regelrecht. Olympia war schon immer ein Treffen der schönsten, fittesten und anmutigsten Körper. Ein schieres Festival der Ästhetik. Eine physiologische Leistungsschau, ein über zweiwöchiger Wettbewerb um Ausdauer, Kraft und Perfektion. Sportler sind Körperkünstler, und wo die Kunst am Werk ist, fehlt Erotik nur selten. Und wo die kräftigsten, schönsten Körper aufeinandertreffen, knistert es eben schon mal.
Kein Zweifel, Ästhetik und Sport – das gehört einfach zusammen; selbst, wenn es nicht identisch ist. Denn der heutige Sport wird, anders noch als vor Jahrzehnten, stark durch ästhetische Aspekte gekennzeichnet – er ist geradezu ein Paradebeispiel der zeitgenössischen Ästhetisierung. Aber könnte man, fragen Sportphilosophen seit langem, nicht sogar weitergehen und Sport nicht nur mit Ästhetik in Verbindung bringen, sondern als Kunst betrachten? Als eigene Kunstform. Die Antwort darauf ist, glaubt man der Wissenschaft, offen. Zwar scheint es zumindest intuitiv klar zu sein, dass Sport nicht Kunst ist. Aber kaum jemand – wenn überhaupt einer – würde sagen, dass Sport im direkten Sinne Kunst sei. Es kann also nicht darum gehen, Sport mit Kunst gleichzusetzen und ihn dadurch – ob gewollt oder ungewollt – zu überhöhen.
Sport und Ästhetik ergeben in der Google-Suche über zehn Millionen Treffer – und das nicht einfach so. Die beiden Begriffe und ihre Bedeutungen gehören definitiv zusammen. Sport braucht die Bewegungsästhetik. Ohne sie, schreibt der Autor Thomas Borowski, werde „eine gepflegte Ausübung einer Sportart zum unansehnlichen Desaster“. Als Paradebeispiele erscheinen heute etwa Kunstturnen, Turmspringen, Eiskunstlauf oder Synchronschwimmen. Borowski: „Man stelle sich nur vor, wie diese Sportarten daherkämen, würde kein Wert auf die Ästhetik und perfekte Ausführung gelegt.“ Die derzeitige Krönung in dieser Hinsicht dürfte die künstlerische Gymnastik darstellen, wo die Sportlerinnen nicht nur mit der Grazie von Ballett-Ballerinen daherkommen, sondern wo geradezu jede Bewegung, selbst die des kleinen Fingers, bis ins Letzte durchgestylt erscheint. Ästhetik in Reinkultur. Selbst im chinesischen Staatszirkus sind sie baff.
Die fast ins Unermessliche gewachsene Medienpräsenz des modernen Sports schreit geradezu nach Athleten, die neben der – selbstverständlichen – sportlichen Höchstleistung auch Charisma und ein gutes Aussehen bieten. Olympische Spiele oder auch Weltmeisterschaften sind immer mehr zu einem Jahrmarkt der Körperlichkeit geworden. Ästhetik wirkt, Ästhetik verkauft sich, Ästhetik macht erfolgreich.
Schon in der Antike galt der Sport als Interpretation des Schönen. Schönheit war in den griechischen Stadtstaaten ein Idealbild der Zeit. Bei den damaligen olympischen Spielen performten, um diesen heutigen Begriff einmal zu nutzen, die Athleten bewusst nackt. Selbst ein Lendenschurz galt den meisten als verpönt. Viele Historiker führen diese Nacktheit darauf zurück, dass die Athleten stolz waren auf ihre durchtrainierten, ästhetisch geformten Körper und diese bei den Spielen allen zeigen wollten.
Blickt man nun auf die jüngere Geschichte Olympias: der Körper eines Michael Phelps, die Bewegungen einer Simone Biles oder die Anmut einer Steffi Graf – sie alle haben etwas Ästhetisches. Oder schauen wir auf Sport-Legenden wie Roger Federer, Usain Bolt, Tiger Woods, Michael „Air“ Jordan. So unterschiedlich ihre Profession war, eines verband sie: höchste Eleganz, Grazie, Harmonie. Die weltbekannte Violinistin Anne-Sophie Mutter hat in einem Essay für das Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ einmal das Spiel Federers mit der Virtuosität des Geigenspiels verglichen, den Bogenstrich auf der Saite mit der einhändigen Rückhand, „dem schönsten Schlag im Tennis“, wie auch John McEnroe einmal sagte. Mutter hat eigene Konzerttermine so gelegt, dass eine Chance bestand, Federer in einem Grand-Slam-Turnier bewundern zu können. Und selbst im Fahrstil der Formel-1-Legende Ayrton Senna sehen Experten eine besondere Form von Ästhetik. Manche gehen noch weiter: Wer schon einmal, sagen sie, ein ganzes Feld von Radprofis bei der Tour de France gesehen habe, welche Atmosphäre es erzeuge, der müsse schlechterdings fasziniert sein von der beeindruckenden Ästhetik dieser Sportler.
Ob nun Sexuelles als fester Bestandteil der Ästhetik angesehen werden kann, darüber mag heftiger Streit entbrennen. Sicher ist jedoch, dass als Ästhetik verbrämte Sexualität immer stärkeren Einzug in den modernen Sport hält. Diese körperliche Ausstrahlungskraft hinterlässt, aber das nur nebenbei, auch zwischen den Athleten Spuren. Gut 300.000 kostenlose Kondome liegen während der Spiele in Paris im olympischen Dorf bereit. Und es wird sicher, wie stets in der Vergangenheit, munter zugegriffen.
Es geht beim Thema Sport-Ästhetik um viel nackte Haut. Das hat auch der „Playboy“ längst erkannt. Vor Olympia 2021 in Tokio zierten drei kostümfreie Sportlerinnen das Cover. Die eine schwang den Degen. Die andere griff den Stab. Und die Dritte stürzte sich ins kühle Nass. Was sie eint? Sie alle gehörten zu Deutschlands Olympia-Hoffnungen. Und was noch? Sie alle zogen sich für das Magazin aus. Ihre Namen: Alexandra Ndolo, Lisa Ryzih und Marie Pietruschka. Andere Olympioniken wiederum präsentierten sich für die fünf Ringe nackt, nur von einer dünnen Bronzehaut übergossen.
Schlagzeilen machen seit langem die Beach-Volleyballerinnen. Hätte diese Sportart nicht schon einen sehr treffenden Namen, sie könnte in „Sex on the Beach“ umbenannt werden. Durchtrainierte Körper schwitzen unter der Sonne, wälzen sich im Sand und vollziehen dabei auch noch sportliche Höchstleistungen. Alles nach dem Motto: Wer hat, der kann. Und so präsentieren gerade die weiblichen Duos ihre perfekten Figuren nur zu gerne in ultraknappen Badehöschen und Sport-BHs.
Zu Beginn der Professionalisierung des Beachvolleyballs war diese Offenherzigkeit aus Imagegründen sogar vorgeschrieben. Die Protagonisten sollten mit den jugendlichen Reizen nicht sparen. „Bikinipflicht“ hieß das Stichwort des Weltverbandes FIVB. Maximal sieben Zentimeter durften die Höschen der Damen breit sein, Oberteile mussten ärmellos sein. Dieser Zwang wurde 2012 aufgehoben, um auch Frauen den Zugang zum Beachvolleyball zu ermöglichen, deren religiöser oder kultureller Hintergrund vorschreibt, weibliche Reize zu verdecken. Vor Paris ist jetzt neuer Krach angesagt. Diesmal bei den US-Leichtathletinnen. Sie sollen mit knallpinken, hautengen Bodysuits von Nike unter dem Eiffelturm auflaufen. Viele Athletinnen und Fans kritisieren die Bekleidung als zu knapp und zu freizügig.
Den Begriff der Ästhetik nur auf vermeintlich anmutige Sportarten zu reduzieren, wäre zu kurz gegriffen. Nehmen wir das Boxen. Brutal, sanktionierte Gewalttätigkeit, gegen die Würde des Menschen, sagen Erz-Kritiker. Boxen kann, behaupten anderseits seine Befürworter, eine große Schönheit innewohnen: diese Ästhetik der Körper (von einigen Superschweren einmal abgesehen), diese Meidbewegungen, diese Finten, diese Schlagkombinationen! Der cleverste Konterboxer der Geschichte, Muhammed Ali, sah sich zu Recht als Künstler. Er schwebte wie ein Schmetterling, stach wie eine Biene, und er war der erste Faustkämpfer, der im Ring tanzte. Ein Tabu. Ein Boxer, der tanzte, war kein Mann. Ali aber wusste, worum es geht: um den schönen, den einfachen Sieg. Abrackern sollten sich die anderen. Und er wusste genauso um die Ästhetik, die dem Boxen innewohnt.
Nun aber zur für viele eigentlichen Kernfrage: Wohnt auch dem Fußball der Zauber der Ästhetik inne? Die Antwort kann nur lauten: und wie! Wer guten Fußball sehen will und Fußballkultur mag, der kommt an Ästhetik nicht vorbei. Das Spiel eines Franz Beckenbauer, was war das anderes als Ästhetik pur? Pelé galt als Schöpfer des „Jogo bonito“, des schönen Fußballspiels. Was dann folgte, war mit Stollenschuhen in den Rasen geschriebene Poesie. Weiter: Wer einmal Drohnenaufnahmen des Tiki-Taka-Fußballs des FC Barcelona in dessen Blütezeit unter Pep Guardiola gesehen hat, kann kaum anders, als darin höchste ästhetische Muster zu erkennen. Guardiola selbst, Verfechter des attraktiven Fußballs, sagt von sich, er liebe das schöne Spiel. Aber, fügt er hinzu: den Sieg, den liebe er noch mehr. Der Spanier selbst warf damit die Frage auf: Was bringt schöner Fußball, wenn er nicht im entscheidenden Moment auch zu Toren führt? Es gibt Spiele, die selbst die höchsten Filigrantechniker nicht mit Ästhetik allein gewinnen können.
Auf die Frage, ob auch Taktik ästhetisch sein könne, antwortete Ex-Bundestrainer Joachim Löw („Ich bin sicher ein ästhetischer Trainer“) einmal in einem „Spiegel“-Interview: „Beides gehört zusammen. Eine Ästhetik oder Spielkultur ohne Organisation und Ordnung ist nicht möglich. Es braucht eine klare Strategie für gutes Offensivspiel, sonst endet alles im Chaos. Ohne Ordnung gibt es keine Kreativität.“ Es klang wie ein Trost für all jene Übungsleiter im Land, die mit dem Begriff Ästhetik im Sport nicht allzu viel anzufangen wissen.
Nr. 258 vom 26. Juni 2024, Seite 25/26
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