Stadtmensch: Über Einsamkeit

In den vergangenen Jahren hat das Gefühl von persönlicher Einsamkeit eine zunehmende Bedeutung bekommen. Dabei geht es nicht um die einigermaßen objektive Einsamkeit älterer Menschen, welche sich vermutlich zurecht zunehmend isoliert fühlen, sondern es betrifft tatsächlich immer öfter junge Menschen. 10 Prozent der Menschen zwischen 16 und 30 Jahren fühlen sich sogar sehr alleine, insgesamt 46 Prozent einsam. Das ist eine hohe Zahl, die mich erst einmal verwunderte, hat man doch in diesem Alter eigentlich eine Unmenge sozialer Kontakte. Mindestens in meiner Jugend jedenfalls verhielt es sich so. Man lernte über Studium, Schule oder Beruf mehr oder weniger gezwungenermaßen eine große Menge Menschen kennen.


Das mag sich heute ein wenig anders verhalten, mindestens der Umgang mit dieser Situation ist es. Zwischen 19 und 21 Jahren scheint dieses Gefühl am stärksten zu sein und interessanterweise sind mehr Frauen als Männer davon betroffen. Schon in der Schule also und kurz danach existiert eine überraschend hohe Zahl von Betroffenen. Während der Coronazeit hatten sich diese Zahlen verständlicherweise in noch höheren Bereichen bewegt. Aber danach gingen diese Zahlen nur vergleichsweise leicht zurück. Also muss es andere Gründe geben. Natürlich liegen da mit Sicherheit Smartphone-Nutzung und soziale Medien vorne, aber auch das vermag dieses Gefühl nur ungenügend zu erklären. Natürlich ist so ein Gedanke immer subjektiv, aber wenn ein solches Phänomen nahezu flächendeckend auftritt, dann sollte man sich diesem stellen. Denn auch die Zahl der psychischen Erkrankungen nimmt seit Jahren zu. Vielleicht werden diese erst jetzt stärker wahrgenommen, weil sie jahrelang nicht diagnostiziert, sondern bestenfalls als nicht ganz der Norm entsprechend aufgefasst wurden.


Bei der Einsamkeit unterscheidet man zwischen emotionaler Einsamkeit, unter welcher insgesamt 60 Prozent und 14 Prozent sogar stark leiden, und der sozialen Einsamkeit, die mit 39 Prozent und verstärkt 10 Prozent zu Buche schlägt. Was also ist passiert? Und war es früher, was immer mit diesem „früher“ gemeint ist, wirklich besser? Wer heute jung ist, wuchs und wächst oft ohne Geschwister auf. Das könnte eine Rolle spielen, denn Geschwisterkinder mussten und müssen sich schon früh mit ihren Brüdern und Schwestern auseinandersetzen und ihre Position innerhalb der Familie aushandeln. Sie lernen soziale Interaktion direkt und eignen sich dabei Fähigkeiten an, die ihnen auch im Umgang mit „Fremden“ nutzen. Fehlt diese Erfahrung, dauert es naturgemäß länger, Bekanntschaften oder Freundschaften auch außerhalb der Familie zu schließen. Aber das ist eine laienhafte Diagnose. Die wirklichen Gründe liegen höchstwahrscheinlich tiefer.


Vielleicht erleben wir gerade einen grundlegenden Wertewandel, der auch der Digitalisierung des Alltags geschuldet sein mag. Alles ist per Download oder Stream verfügbar, echte Live-Veranstaltungen wie Konzerte steigen im Preis so an, dass sie für immer mehr Menschen unerschwinglich werden. Die Zuschauerzahlen in den Kinos, aber auch bei Konzerten oder im Theater gehen zurück. Künstliche Intelligenz und Maschinisierung des Alltags tun ein Übriges, uns von der direkten Kommunikation mit Menschen, also miteinander, fernzuhalten. Im digitalen Raum dagegen können wir uns nicht sicher sein, ob unser Gegenüber tatsächlich existiert oder nur ein Bot ist, also eine programmierte Scheinperson. Und je besser die Künstliche Intelligenz wird, desto eher ist es möglich, uns einen Freund oder eine Freundin vorzu-gaukeln. Je angenehmer sich diese Illusion erweist, umso eher sind wir bereit, sich mit ihr anzufreunden. Es ist so leicht, es gibt keinen Widerspruch, man muss nicht seine Position behaupten, denn die Gegenseite stimmt zu. Nun ist Freundschaft aber eben nicht nur leicht, sondern sie fordert auch. Aus diesen gegenseitigen Forderungen entsteht eine Beziehungsgeschichte, die verbindet, weil sie etwas zu erzählen hat, und die nicht immer geradlinig verlaufen muss. Vielleicht überfordert das junge Menschen und sie ziehen ein anonymes Netz vor. Vielleicht liegt es aber auch im Angebot dieser Anonymität. Denn die ist nicht verpflichtend. Und für eine gestreamte Kulturveranstaltung muss man sich nicht anstellen, die Nähe und den Geruch anderer Menschen ertragen und man kann pausieren, wann man will. Dass es diese scheinbaren Beschränkungen sind, die ein Leben ausmachen und Erlebnisse produzieren, die tatsächlich unwiederholbar und einzigartig sind, geht dabei verloren.


Wenn jetzt noch eine sich stets weiter entwickelnde „Virtual Reality“ dazu kommt, die einen in nicht allzu ferner Zeit all das erleben lässt, ohne dass man die heimische Wohnung verlassen muss, dann wird die echte Einsamkeit noch größer. Und Einsamkeit ist letztendlich einer der Hauptgründe dafür, dass sich Menschen radikalisieren. Daher müssen wir soziale Interaktion wieder lernen. Vielleicht ist das die Aufgabe von Schulen und Universitäten, diese zu lehren. Wissen kann uns die KI vermitteln, aber für den Rest brauchen wir empathische Menschen, die zeigen, dass auch Einsamkeit Teil eines jeden Lebens ist, aber vor allem, dass es sich dabei um ein vorübergehendes Gefühl handelt. Wenn ihr euch einsam fühlt, dann habt den Mut, und geht trotzdem unter Menschen, erlebt das Leben in all seinen Facetten, lernt zu akzeptieren und akzeptiert zu werden. Das mag banal erscheinen und ist es auch, zugleich aber ist es auch basal. Die Grundlage für alles ist nun einmal, dass wir eine heterogene Gemeinschaft bilden. Und du bist nur dann nicht, egal ob gefühlt oder real, dauerhaft alleine, wenn du bereit bist, dich auch mit den dazugehörigen schmerzhaften Prozessen auseinanderzusetzen. Das ist nicht anonym und mit einem Klick zu beenden. Das erfordert Courage und vor allem Realität.


Lars Johansen

Nr. 258 vom 26. Juni 2024, Seite 7

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